Wo nur ist Richard Wagner geblieben?

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (06.12.2004)

Der fliegende Holländer, 04.12.2004, Zürich

Die Neuproduktion des Evergreens «Fliegender Holländer» am Opernhaus Zürich überzeugte kaum

Richard Wagners «Fliegender Holländer» gehört zu den Evergreens auf den Opernbühnen, denn er fasziniert durch Handlung und Musik: hier die beschauliche Welt der Seeleute und deren Frauen, die am Spinnrad sitzend warten, dort der Holländer, der unvermittelt in diese biedermeierliche Welt eindringt, und Senta, die daraus ausbricht. Wagner hat sich den perfekten Plot für seine Musik geschaffen, für die volksliedhafte Diesseitigkeit und die harmonisch kühne, ausbrechende Romantik.

Das Team der Neuproduktion des «Holländers», der am Samstagabend am Opernhaus Zürich Premiere feierte, scheint allerdings nicht viel von solchen Vorgaben zu halten - im Gegenteil, es warf kurzerhand alles über Bord. Regisseur David Pountney ebnete die beiden Gegenwelten rigoros ein und zerstörte damit die Wagnersche Dramaturgie gründlich. Dirigent Christoph von Dohnànyi bot dafür eine überlaute, undifferenzierte Interpretation, die schwerlich zu überbieten ist.

Handlung nach Baikonur in Kasachstan versetzt

Pountney versetzt die Handlung nach Baikonur in Kasachstan, in das marode russische Raumfahrtzentrum. Hier haben die beiden Künstlerinnen Jane und Louise Wilson Anfang der 1990er Jahre Videoinstallationen von beissender Schärfe realisiert, die nun als grossdimensionale Videoprojektionen im «Holländer» verwendet werden. Entsprechend funktional ist das Bühnenbild gestaltet, das aus einem freischwebenden, begehbaren Metallquadrat besteht, an dem die vier Projektionswände hängen. Bühnenbildner Robert Innes Hopkins findet damit eine raffinierte Lösung, denn durch das ständi- ge Verschieben der lichtdurchlässigen Wände entstehen immer neue Raumkonstellationen.

Inkonsequente Handhabung

So einleuchtend diese «Raumfahrtlösung» scheint, so inkonsequent wird sie gehandhabt. Schon zu Beginn sieht man zwei Zentrifugen, mit denen in Baikonur die Schwerelosigkeit simuliert wird. Nur befinden wir uns in der «diesseitigen Welt» des Daland, und so müssen die Matrosen in Raumfahrtanzügen «Segel auf» singen. Holländer- und Daland-Welt werden in Zürich eins. Am abstrusesten wird diese Vermengung im dritten Aufzug, wenn die beiden Welten in einer dramaturgisch genial komponierten Szene aufeinander treffen. Bei Pountney vergewaltigen die Daland-Matrosen ihre als strohblonde Barbiepuppen aufgepeppten Mädels im Takt der Schauermusik des Holländers.
Dramaturgie ist an diesem ärgerlichen Opernabend überhaupt ein Fremdwort. Der Regisseur bürstet das Werk gründlich gegen den Strich, allerdings ohne neue Lösungen zu präsentieren. Die faszinierende Kernszene des Werkes, das Aufeinandertreffen von Senta und Holländer, führt Pountney gar ad absurdum.

Spannung verpufft

Die Spannung der Musik wird konterkariert, Holländer und Senta rennen ständig aneinander vorbei, Blickkontakt ist verboten. Die Annäherung findet nur durch die Videoprojektion der zwei übergrossen Köpfe der Protagonisten statt. Musik und Spannung aber verpuffen.

Selbstüberbietung führte zu Unsauberkeiten

Dass es das Sängerensemble bei solcher «Entmenschlichung» schwer hatte, sich seinen Rollen zu stellen, versteht sich. Dass ihnen Christoph von Dohnànyi zusätzlich das Leben erschwerte, war die grösste Enttäuschung.
Berühmt-berüchtigt für seinen Hang zur Lautstärke, überbot er sich an diesem Abend gleich selber. Schon die sinfonisch gestaltete Ouvertüre liess nichts Gutes erahnen, denn neben expressivstem Fortissimo kamen auch technische Unsauberkeiten dazu.
Am schlimmsten war, wie die Musik sozusagen taktweise aus dem Boden gestampft wurde, von Phrasierung oder Legato blieb nichts übrig, von einer Unterscheidung der Welten auch nicht.

Brillianter Holländer

Egils Silins als Holländer brillierte mit einer Diktion, die jedes Wort verständlich machte, es aber auch derart betonte, dass der musikalische Fluss verloren ging. Schade um diese dunkle, kernig fundierte Stimme, die zwar die Kraft, aber nicht die Musikalität für den Holländer mitbrachte. Bei Eva Johanssons Senta erlebte man ein Wechselbad der Gefühle: Einerseits mit kräftigem und höhensicherem Sopran ausgestattet, andererseits durch das Orchesterbrausen derart unter Hochdruck singend, dass auch hier Interpretation und Gefühle verloren gingen.

Nur Bassstimme liess die Grösse der Musik erahnen

Sinnfällig für die musikalischen Schwierigkeiten waren die beiden Tenöre. Hier Rudolf Schasching, ein bestandener «hochdramatischer» Siegmund und Siegfried, der hier an Dohnànyi-Erik scheiterte. Wo war nur die wunderbare Kantilene bei den beiden Erik-Arien, diesen kantablen Vorläufern des Stolzing? Schasching musste «parlieren», «schreien», «hauchen» und durfte nur zwischendurch seine kraftvolle, gut geführte Stimme «laufen lassen». Und da war das Rollendebüt von Christoph Strehl als Steuermann. Wir kennen seine wunderbare lyrische Stimme, hier wirkte sie brüchig und forciert. Unbeeindruckt zeigte sich einzig Matti Salminen als Daland. Mit seinem mächtigen Bass liess er sich nicht provozieren, sang mit fabelhafter Phrasierung, artikulierte und interpretierte die Rolle des biedermeierlichen Seefahrers. Hier spürte man etwas von der Grösse Wagnerscher Musik.

Der Chor hatte es schwer

Schwer in diesem Szenario hatte es der Chor. Im Off oder in luftiger Höhe singend, ohne Blickkontakt zum Dirigenten, schlugen sich die Sängerinnen und Sänger dank der Einstudierung von Jürg Hämmerli gut und lärmten in der Gespensterszene wacker mit. Der Chor wie viele andere werden sich allerdings wehmütig gefragt haben: Wo nur ist Richard Wagner geblieben?