Weltall-Streben und Weltverlust

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (06.12.2004)

Der fliegende Holländer, 04.12.2004, Zürich

Neuinszenierung von Richard Wagners «Fliegendem Holländer» mit Daviod Pountney und Christoph von Dohnányi

Der Fliegende Holländer als Welt-Raum-Schiff-Fahrer: unromantischer geht es kaum, was mit einem Buh-Konzert für die szenisch Verantwortlichen quittiert wurde. Doch ist das zu kurz gedacht, denn David Pountney hat die Fabel vom Holländer, vom «ewigen Juden des Ozeans», konsequent weiter gedacht, packend aktuell.

Treu bis in den Tod muss sie sein und kein Jota weniger, jenes Weib nämlich, das den Fliegenden Holländer erlösen könnte. In solcher Sehnsucht nach dem Weib, «nach dem erIösenden Weibe», in solcher Fixierung auf «das Weib überhaupt, das ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib», ja noch mehr: «das Weib der Zukunft», das «noch unvorhanden, dessen Züge mir in keiner sicheren Gestalt entgegentraten» (so Richard Wagner) - was würde sich darin anderes manifestieren als ein schon pathologisch zu nennender, objekthafter Umgang mit der Frau, und das aus männlicher Selbstüberhebung heraus? Wobei, in Klammern angemerkt, diese Vorstellung vom hehren Weib zur regressiven Thematik der deutschen Romantik gehört.
Fragt sich, wie man das inszeniert. Denn solche Sehnsucht, solch übersteigerte Fixierung ist Folge jener Weltschmerzthematik, wie sie die Romantik des 19. Jahrhunderts beherrschte: von Lord Byron über Schuberts Winterreisenden zum Fliegenden Holländer und schliesslich zu Wotan, dem Wanderer. Wanderer nämlich sind sie alle, unbehaust und ausgestossen, ausgeliefert ihrem tragischen «Wanderlos» (Lenau), das Herz voll von «Wanderleid» (Keller), auf der vergeblichen Suche nach jenem Glück, welches stets dort ist, «wo du nicht bist» (Schubert).

Mutterbindung

Alle leiden sie an der Enttäuschung über die Welt und die Menschen, und der Fliegende Holländer insbesondere: einen «ewigen Juden des Ozeans» nennt ihn Heine, von dem Wagner die ganze Story her hat, «gleich einer leeren Tonne, die sich die Wellen ei-nander zuwerfen». So wird der arme Holländer «zwischen Tod und Leben hin und her geschleudert» (wobei die Tiefenpsychologie diese fatale Bin-dung zum Meer als ebenso fatale Mutterbindung interpretiert). So oder so, nirgends kann der Holländer Fuss fassen, was meint: als ein res-pektables Glied sich in die bürgerli-che Gesellschaft einordnen.
Senta also fühlt sich urplötzlich berufen, ihn zu erlösen: «Treu bis in denTod.» Bei Heine heisst es just in diesem Moment verräterisch: «Bei dieser Stelle hörte ich lachen.» Man könnte über so viel impulsive Opferbereitschaft respektive Erlösungsmission schon lachen, zumindest den Kopf schütteln. Handelt es sich um Selbstpreisgabe für einen andern oder, im Gegenteil, um Selbstfindung? Individuation oder Selbstverlust? Ist Senta eine pathologische Hysterikerin oder eine närrische Schwärmerin? Rebellin oder Romantikerin? Fragt sich abermals, wie man das inszeniert.

Künstlerproblematik

Regisseur David Pountney brachte den «Fliegenden Holländer» bereits 1989 auf die Bühne, nämlich auf die Seebühne der Bregenzer Festspiele. Damals angesiedelt in der Zeit der Industrialisierung und der Welt des Kapitals, beides vom pragmatischen Daland verkörpert, und der Holländer war ein idealistischer Aussenseiter. In seiner Zürcher Neuinszenierung geht Pountney noch einen entscheidenden Schritt weiter (im historischen Zeitablauf) und in die Tiefe (der geistigen Konsolidierung). Künstlerproblematik heisst nun das Stichwort; denn, was in Heines Erzählung als geheime Judenproblematik angelegt ist, wird nun als faustisches Prinzip des ewig suchenden Künstlers, ja Wissenschaftlers interpretiert - stets auf der Suche nach neuen Welten und Einsichten und gleichzeitig heimat- und beziehungslos in der eigenen Welt.

Entsprechend hat Robert Innes Hopkins einen nüchternen, technisch-funktionalen Bühnenraum eingerichtet, Eisen und Beton, so weit man blickt. Ein frei hängendes Metallkarree mit der Spitzkante zum Publikum hin ausgerichtet erinnert an einen Schiffsbug mit Kommandobrücke, wo der Kapitän seine Wachrunden dreht und der Matrosenchor singt. Darunter, in strenger Geometrie angeordnet, verschiebbare Bildwände, die Ein- und Durchblicke in drehbare Innenräume auf- und zuschliessen.

Auf diesen Bildwänden werden am laufenden Band Videos projiziert, die diesen bislang kahlen, ortlosen Raum nun konkretisieren. Es handelt sich dabei um eine speziell für diese Operninszenierung angefertigte Adaption der Video-Installation «Star City» der Zwillingsschwestem Jane und Louise Wilson: laufende Bilder von einem (nach 1989) verlassenen sowjetischen Kosmonauten-Trainingszentrum. Einst getragene Raumanzüge stapeln sich, Maschinen und, Trainingsmodule drehen sich leer - weit und breit ist kein Mensch (mehr) zu sehen: Der Traum vom technischen Fortschritt, die Sehnsucht nach dem Weltall, beides hat sich verselbständigt, hat nichts mehr mit dieser Welt zu tun.

Das dritte Auge

Das ist konsequent gedacht und wird auf der Bühne auch konsequent ins Bild gebracht: von beklemmender Wirkung zum Teil. Zum andern Teil indes - und als Folge dieses einheitlichen Bühnenbilds - ergibt sich daraus auch eine Verflachung von Wagners Vorlage: Der Gegensatz von Dalands bürgerlich-spiessiger Kapitalistenwelt und der Welt des faustischen Strebens hinaus ins Weltall, dieser Gegensatz wird eingeebnet bis zur Verständnislosigkeit: Auch bei Daland zuhause weben die Spinnerinnen an Leuchtkabeln, im (SkIaven-)Dienst des raumfahrttechnischen Fortschritts auch sie.

Und Senta, die Tochter Dalands? Sie ist nicht von dieser Welt, denn sie hat Visionen von einer besseren Welt, verfügt über ein so genanntes drittes Auge, das sie unentwegt auf den Boden und den Spinnerinnen auch mal auf deren blinde Stirn malt. Mag sie auch eine Idealistin sein - in dieser rein auf den technischen Fortschritt ausgerichteten Welt, in der Ideale längst keinen Platz mehr haben, wirkt sie wie eine pathetische Hysterikerin: ein pathologischer Befund also, Selbstverlust.

Frisch durchlüftet

Wirklich Wagners «Weib der Zukunft»? Diese und andere Fragen wurden letztlich mit einem lautstarken Buh-Konzert für die szenisch Verantwortlichen beantwortet. Eine Quittung vielleicht auch für die totale Abwesenheit von Romantik in dieser Neuinszenierung, einer Romantik, die dem «Fliegenden Holländer» seiner Thematik wie seiner Musik nach, (die bewusst an den erfolgreichen Nummern aus Webers «Freischütz» anschliesst) inhärent ist. Umgekehrt ist das alles derart schlüssig weiter gedacht und derart bildhaft in Szene gesetzt, dass man sich dieser Inszenierung und ihrer Aufforderung zum Mitdenken nicht entziehen kann: spannend und beeindruckend allemal.

Hochspannung vibriert auch im Orchestergraben: Welch ein Klang, welch bewegender Fluss, welch sensibel durchleuchtete Schönheit, die sich da unter den Händen Christpph von Dohnànyis entfaltet. Dohnànyis Wagner ist ein Musterbeispiel an formalem Kalkül und frisch durchlüfteter analytischer Transparenz, ist trotzdem gefühlsbetont, vor allem aber dramatisch effektvoll gesteigert. Er legt das thematische Beziehungsgeflecht erhellend frei, und das Orchester der Oper Zürich agiert mit bemerkenswerter Präzision und Klangfantasie. Ein Sonderlob auch für den mit stimmlicher Schlagkraft überwältigenden Chor des Opernhauses Zürich.

Souveräne Sänger

In Zürich wird die pausenlose Erstfassung der Oper gespielt, was für die Sänger eine zusätzliche Belastung darstellt. Sie meistern das famos - besonders Egils Silins in der Titelpartie. Sein mächtiger Bariton hat vor allem in der Höhe eine mitreissende Strahlkraft, die über alles dominiert: faustisch und mephistophelisch zu gleichen Teilen. Eva Johansson als Senta ist ganz pathetische Gestalt: existentiell bewegt von dem, was zukünftig sein soll. Entsprechende Gewalt geht von ihrer Stimme aus, eine fast selbstzerstörerische Gewalt, doch die Stimme meistert das souverän.

Matti Salminen schöpft als Daland ebenfalls aus dem Vollen: ein so genannt senkrechter Bürger, der listig auf seinen Vorteil zu achten versteht. Dagegen wirkt Rudolf Schasching als der von Senta verschmähte Liebhaber Erik wie ein ungehobelter Naturbursche: keiner, der mit tenoralem Schmelz verführen könnte. Christoph Strehl singt den Zigarette rauchenden Steuermann mit lyrischem Impetus, und Irène Friedli stellt als Mary eine intensive, zuweilen fast schon überinterpretierte moderne Version einer KZ- oder Kolchose-Aufseherin vor. Es ist letztlich genau diese Intensität auf der Bühne wie im Orchestergraben, die einen in Bann zieht: im hörenden Mitvollzug, im reflektierenden Weiterdenken.