Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (28.11.2006)
Verdis «Don Carlos», provokativ angerichtet von Calixto Bieito am Theater Basel
Calixto Bieitos erste Inszenierung in der Schweiz bestätigt seinen Ruf: Verdis «Don Carlos» in Basel hat am Sonntag heftige Proteste und ebenso stürmische Begeisterung hervorgerufen.
Unbeteiligt lässt sich Bieitos Theater nicht konsumieren. In seiner radikal schwarzen Deutung stehen allerdings verstörende, die Musik vertiefende Szenen neben solchen, die die Musik zum Hintergrund degradieren.
Der Protest kochte vor und nach der Pause hoch. Kleriker erdrosseln einen Idioten, Ketzer und flandrische Deputierte werden zitternd und nackt der Festgesellschaft präsentiert – auch der Premierengesellschaft, der die Bühnenmusik nahtlos auch im Foyer aufspielt. Und wo man nach der Pause das einsame Gemach des schwächlichen und gewalttätigen Königs Philipp (Stefan Kocan metallisch, vielschichtig) erwartet, knien die Ketzer ums Himmelbett und werden zur Arie einzeln erstochen, während Philipp die teilnahmslos daliegende Elisabeth begattet. Das ist drastisch wie Bieitos ganze Inszenierung und ist doch ein Wendepunkt.
Denn vorher hat Bieito Mühe, das Drama in Fahrt zu bringen, Hänger und Provokationen wechseln sich ab, die Bezeichnung als «surreales dramatisches Gedicht» soll die assoziative Bilderflut legitimieren. Dass Elisabeth als Braut zur Madonna überstilisiert wird, macht Sinn (Mardi Myers sorgt im letzten Akt mit wundervoll gespanntem Piano für den gesanglichen Höhepunkt). Ebolis Show, in der sie Elisabeth mit Joghurt und Hypnose zum talkshowmässigen Gespräch mit Carlos bringt, wirkt hingegen trotz Leandra Overmanns überwältigender Bühnenpräsenz kaum zwingend, und der Auftritt des alten Kaisers Karl V. als Heiland trägt wenig zum Verständnis des Stücks bei, da die Kirche schon bei Verdi schlecht genug wegkommt.
Am augenfälligsten überladen ist das Autodafé-Bild, in dem szenischer Aktionismus den effektvollen musikalischen Aufbau überlagert. Hier erschliesst sich auch der musikalische Bogen zu wenig. Allerdings nur hier, denn was Balasz Kocsar mit dem sehr konzentrierten Basler Sinfonieorchester sonst leistet, ist hervorragend: Klanglich so ausgehört, mit lyrischer Delikatesse und Intensität hört man Verdi selten.
Ist der dramatische Knoten einmal geknüpft, wirds nach der Pause auch auf der Bühne beklemmend intensiv – wenn auch nicht weniger blutig und brutal. Wie Bieito nun die Beziehungsnetze knüpft, wie er Gewalt und Unterdrückung als unüberwindbare Grundlage des spanischen Hofes offen legt, gewinnt unmittelbare dramatische Wirkung.
Im Schluss steckt auch inhaltlicher Sprengstoff. Wenn die Sympathieträger Elisabeth und Carlos (Keith Ikaia-Purdy wäre mit mehr leisen Tönen noch intensiver) die Welt in die Luft sprengen, weil Gewalt der einzige Ausweg aus dem menschenverachtenden System zu sein scheint, birgt Sprengkraft in einer Inszenierung, die insgesamt zu überladen und zu provokativ daherkommt, um ihr Potenzial ganz auszunutzen statt zu überfordern. Am Schluss waren die Bravos lauter als die Buhs.