Tiefgekühlter Symbolismus

Herbert Büttiker, Der Landbote (16.11.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

Die Kälte siegt, die Gemüter sind erhitzt. Das Opernhaus präsentiert Debussys einzige Oper in ungewohntem Klima.

Auf dem zugefrorenen Teich sitzt Mélisande regungslos im Kahn. Wie sich Golaud ihr nähert und sie anspricht, tritt aus der Eislandschaft im Hintergrund Mélisande hervor, identisch in Gestalt, Gesichtsphysiognomie und Kleidung. Auf die Fragen nach ihrer Herkunft, die er an die Puppe richtet, gibt die Sängerin, von ihm unbeachtet, hinter ihm die scheue Antwort. Bald aber zeigt sich, dass die Marionetten-Figur für die lebendige Mélisande ebenso eine Bezugsperson ist und dass Golaud und alle weiteren Figuren der Oper ebenfalls ihr durchaus verwechselbares Alter Ego haben, oft im Rollstuhl, oft irgendwo hingelegt, oft aber auch integriert in den Dialog, der so eigentlich monologisch bleibt. Das wirkliche von Du zu Du, das unverstellte Zwiegespräch, ist die Ausnahme: unvergesslich das fast gesprochene Liebesgeständnis von Pelléas und Mélisande im vierten Akt – grossartig komponiert im kargen «Je t’aime» und «Je t’aime aussi», zu dem das Orchester schweigt, und wunderbar «ausmusiziert» in der Stille.

Phantasie und Material

Ein komplexes, aber intensives Figurenspiel und die unheimlichen Bilder einer vereisten Welt: Die Inszenierung von Sven Bechtolf, Rolf und Marianne Glittenberg (Bühnenbild und Kostüme) sowie Jürgen Hoffmann (Licht) spart weder Phantasie noch Material. Ein zisternenartig geschlossener Raum im Vordergrund und eine labyrinthische Landschaft auf der Drehbühne im Hintergrund sorgen für einen bewegten szenischen Rhythmus ganz im Geist dieser Oper, deren musikalische Gliederung in Szenen und orchestrale Zwischenspiele vom Bildgeschehen diktiert ist. Nur, das Bildprogramm entfernt sich weit von dem, was der symbolistische Dichter Maurice Maeterlinck vorgibt und Debussy immer wieder auch lautmalerisch komponiert hat.
Ja, auch lautmalerisch. Dass sich diese fliessend webende und doch thematisch strukturierte Musik im Impressionistischen erschöpft, ist damit nicht gesagt. Die Bewunderung gilt aber doch dem Phänomen einer Klangsprache, die Vordergründiges und Hintergründiges überaus schlicht in Übereinstimmung bringt. Im «Naturlaut» des Orchesters und im natürlichen Sprechton der Gesangsstimmen geht zugleich das seelisch Geheimnisvolle, die traumartige Wirklichkeit der Dichtung auf, und die poetischen Bilder, die beides vermitteln, sind nicht weit hergeholt: der Wald, der Brunnen, der Turm, die Grotte, das Meer, der Wind, die Jahres- und Tageszeiten usw.
Die Inszenierung mag das symbolistische Kaleidoskop abstrahieren (wie etwa Beni Montresor in St. Gallen, 1995), sie kann es aussparen beziehungsweise dem Wort und der Musik überlassen und sich konsequent an das bürgerliche Drama halten (wie Pierre Strosser in Lyon, 1988). Aber der Kollisionskurs einer eigenen Bildfindung mit der in Wort und Klang anvisierten? Die gefrorene Landschaft, in der davon die Rede ist, dass man vor Schwülheit selbst im Schatten der Bäume ersticke? Die Citroën DS anstatt eines Turms als Ort des heimlichen Treffens? Gewiss ist da manches von verstörender Eindringlichkeit, vieles souverän umgesetzt. Was Golaud seinem Bruder zur Warnung in den Gewölben unter dem Schloss zeigt, ist Albtraum pur. Mit den handlichen Marionetten lässt sich umspringen, dass es den Zuschauer schmerzt. Aber bedeuten «starke Bilder» per se auch tiefere Einsicht? Wiegen sie den Verlust einer genialen Einheit von Wort, Musik, Bild und Sinn und die Totalität einer Wirkung auf, in der alle Wahrnehmung zusammenfliesst und für die Oper steht? Faszination und Zweifel dürfen sich wie Applaus und Ablehnung des Publikums an der Premiere durchkreuzen.

Diskretion und Ausbruch

Wie auch immer. Sich auf ein «A part» zu konzentrieren gehört jedenfalls zur Höraufgabe an diesem Abend: mit Gewinn, was die sängerische Leistung eines Ensembles betrifft, das mit lauter Rollendebüts aufwartete. Was es heisst, Debussys feingliedrigen Gesang in allen Nuancen und im Zeichen der Stille musikalisch präzis und expressiv zu gestalten, das Parlando mit lyrischer Substanz zu füllen, lässt sich besonders eindrücklich mit Isabel Reys Mélisande erleben: mit blühendem, im Zarten kräftigem Sopran lässt sie die Figur in die Liebesszene hineinwachsen und in die Todesszene wieder eingehen zur Menschenseele, die «très silencieuse» ist.
Auf diesen «diskreten» Ton versteht sich in der Schlussszene ergreifend auch Michael Volle, der mit facettenreichem Bariton zuvor Golauds Gewaltausbrüche heftig in Szene gesetzt und ihn mit allen Zwischentönen der Zerrissenheit zur tragischen Figur gemacht hat. Pelléas, den Dritten im zentralen Dreieck, mit einem Bariton zu besetzen ist nicht unproblematisch. Mit Rodney Gilfry ist allerdings ein über weite Bereiche der Partie ein differenzierter und flexibler Sänger am Werk mit frischem Timbre in der tiefen und mittleren Lage. Aber Grenzen sind doch unüberhörbar, und insgesamt wäre eine tenoral glänzendere, lyrisch blühendere Stimme auch ein gewinnender Kontrast zum virilen Rivalen.

Vehemenz und Feinzeichnung

Unter den weiteren Figuren mag man Cornelia Kallischs Geneviève, Guido Götzens Arzt und Eva Liebaus Yniold – dieser freilich ein Glanzlicht musikalisch und inszenatorisch – als Nebenfiguren bezeichnen. Arkel, obwohl nur fast blinder Zeuge des Dramas, ist in gewissem Sinn die Hauptfigur. Mit der Ahnung um die fatale Zwangsläufigkeit des Geschehens und die Abgründe des Seelischen und mit dem Wissen um die Hinfälligkeit seiner Existenz ist er ein Spiegel des Dichterischen: eine Figur, die László Polgár mit seinem warm-dunklen, ruhig geführten Bass wie auf den Leib geschrieben ist.
Die sorgfältige Sängerarbeit findet im Instrumentalen ihre grandiose Fortsetzung. Der Orchestergraben präsentiert sich als Farbpalette, die allen Zauber offeriert. Franz Welser-Möst setzt jedoch nicht auf klangliche Delikatesse allein, sondern mobilisiert auch erstaunlich viel dramatische Energie und Vehemenz. Da herrscht vom ersten bis zum letzten Ton in der atmosphärischen Feinzeichnung auch Spannung. Wie auch immer man sich in der Inszenierung zurechtfindet, deutlich macht der Abend, dass dieses Schlüsselwerk der Moderne noch immer ein unerhörtes Ereignis ist.