Debussy - schwer symbolistisch

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (16.11.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

«Pelléas et Mélisande» im Opernhaus Zürich

Ganz leise, im Klang tiefer Streicher und eines Fagotts, hebt das Orchester der Oper Zürich an, doch wenn im Takt darauf zwei weitere Fagotte dazukommen, treten diese Bläser plötzlich irritierend heraus. Nun gut, das kann passieren, es gibt ja einen zweiten Anlauf - aber: Das Bild bleibt dasselbe. Da stimmt etwas nicht, da spielen die Bläser zu laut oder die Streicher zu leise, das Geschehen müsste sich ja in einem geschlossenen dynamischen Umfeld entfalten. Ein heikler Beginn, gewiss, und dass er danebengegangen ist, mag der Premierenspannung zuzuschreiben sein. Allein, es ist nicht das Einzige, was bei der neuen Zürcher Produktion von «Pelléas et Mélisande» musikalisch zu wünschen übrig lässt.

Der österreichische Dirigent Franz Welser- Möst scheint den Kontakt zur Oper von Claude Debussy nicht gefunden zu haben. Weder das spezifisch impressionistische Idiom noch der Bezug zu Richard Wagner wird klar herausgearbeitet; weder wird die Linearität beleuchtet noch die rauschhafte Harmonik betont. Auch klangliches Raffinement, Duft gibt es wenig - wobei zu sagen ist, dass dieses Stück in diesem Raum alles andere als einfach zu bewältigen ist. Aber selbst so wirkungsvoll komponierte Stellen wie der Moment, da Mélisande ihren Ehering ins Wasser fallen lässt, und die offene Liebeserklärung von Pelléas geraten blass, weil sie zu absichtsvoll, mit zu wenig Souplesse angegangen werden. Und immer wieder stockt es hier und rennt es dort davon, wo sich die Musik doch als eine ruhige Erzählung entfalten müsste.

Vollkommen unerträglich die Erhitzung des fünften Aktes. Das Ende von «Pelléas et Mélisande» kann sich in die Länge ziehen, das ist bekannt. Das Geschehen derart dramatisch aufzuladen, wie es im Opernhaus Zürich geschieht, ist aber nicht die Lösung. Es führt nur dazu, dass Rodney Gilfry, der mit seinem hellen Bariton einen sympathischen Pelléas abgibt, zu forcieren beginnt und heiser wird. Und dass sich Michael Volle, der den unglücklichen Golaud von Anfang an als noch durchaus jugendlichen Feuerkopf zeichnet, in ein schwer auszuhaltendes Brüllen verirrt - hier wird Debussy mit Puccini verwechselt. Ihre Fassung bewahren Cornelia Kallisch als eine ganz aus der Tiefe ihrer Kehle klingende Geneviève und vor allem László Polgár, der als Arkel meist im Sitzen zu singen hat, aber stimmlich wie darstellerisch zu hinreissender Ausstrahlung findet. Mélisande schliesslich, sie ist bei Isabel Rey, ihrem lieblichen Sopran und ihrer ganz natürlichen Bühnenpräsenz, in besten Händen. Bemerkenswert zudem, dass die Verständlichkeit einen hohen Grad erreicht und dass jetzt auch das Opernhaus Zürich zu der weit verbreiteten Übertitelung greift.

Mag sein, dass die musikalische Realisierung einen Gegensatz zur szenischen Auslegung aufbauen möchte. In der Ausstattung von Rolf und Marianne Glittenberg herrscht nämlich Eiseskälte. Ein Schloss aus abweisendem Granit bildet den Schauplatz von Debussys Oper in Zürich. Die Naturszenen sind durchwegs in Grotten verlegt, die durch Wellblechwände abgeschlossen werden. Und vor allem liegt überall Schnee, der Schnee jener Krankheit, die zum Tode führt. Erstarrung noch und noch, was dadurch unterstrichen wird, dass die Figuren des Dramas nicht nur durch die Darsteller, sondern zusätzlich durch ihnen nachgebildete, in Rollstühlen placierte Puppen personifiziert werden. Stimme und Figur stehen so nebeneinander, was dann noch zugespitzt wird, wenn sich ein Darsteller an eine Puppe wendet, die Antwort aber von einem anderen Darsteller kommt. Das einzige Zeichen des Lebens führt der kleine Yniold (Eva Liebau) mit sich; es ist eine goldene Kugel, die sich Mélisande am Ende aneignet und mit der sie über ihren Tod hinaus spielt.

So gut das klingt, so sehr führt es freilich in die Irre. «Pelléas et Mélisande» ist nicht das Stück hinter Eis und Glas, das uns diese Produktion vorspiegelt, vielmehr ist hier die Rede von Liebe, Mitleid und Hoffnung. Das wird in Zürich ausser acht gelassen. Dafür gefällt sich die Inszenierung in einem späten Anklang ans Regietheater. Der Turm, aus dem Mélisande ihre überlangen Haare auf Pelléas niederfallen lässt, ist hier eine Zitrone, ein Citroën DS - der Gag ist nicht mehr als ein Gag und zudem merklich verbraucht, aber Debussys Oper gilt bekanntlich als ein Meisterwerk des Symbolismus. Im Übrigen übt man sich im Rampensingen und in jener tautologischen Gestik, die ihren Höhepunkt dort findet, wo Mélisande zu der Bemerkung, ihr Kleid sei zerstört, ein Stück Seide zerreisst. Profil finden die Figuren keines, und zu einer interpretatorischen Aussage, die über die dekorative Szenerie hinausreichte, kommt es ebenso wenig. So ist es offenbar, wenn sich der Schauspieler Sven-Eric Bechtolf der Oper zuwendet. An der mässig, nach der Pause noch mässiger besetzten Premiere erhielt er ein Buhkonzert - das nun wieder jedermann in seiner Weise interpretieren kann.