Blühende Musik, erstarrte Welt

Verena Naegele, St. Galler Tagblatt (16.11.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

Debussys «Pelléas et Mélisande» am Opernhaus Zürich

Mit «Pelléas et Mélisande» konnte sich Dirigent Franz Welser-Möst in Zürich einen lang gehegten Wunsch erfüllen. Die Musik blühte denn auch, doch die Bühne war in Eis erstarrt.

Claude Debussy fühlte sich nach eigener Aussage durch die «traumhafte Atmosphäre» des Pelléas-Dramas von Maeterlinck, das «bei weitem mehr Menschlichkeit enthält als all die sogenannten lebensechten Stoffe», zu seiner einzigen Oper inspiriert. Sie lebt vom Andeuten und Verschleiern, vom symbolistischen Vernebeln, bei dem die Musik das Unausdrückbare in einem steten Blühen umspielt.

Franz Welser-Möst liegt solche Musik, er lotet mit dem Orchester den musikalischen Duktus dieser Traumsprache wunderbar aus und verhilft der kammermusikalischen Faktur mit blitzsauberen Bläsern und weichen Streichern zu Transparenz und klanglicher Dichte. Ihm gelingt ein grossformaler Bogen von der emotionslosen, schwebenden Zurückhaltung des ersten Teils in einem langgezogenen Crescendo hin zum wütenden Ausbruch des eifersüchtigen Goleaud. Mit dramatischer Verve präsentiert Michael Volle dabei ein faszinierendes Rollenporträt.

Berückendes Ensemble

Die Stimmen sind hervorragend aufeinander abgestimmt, und sie werden in ihrem melismatischen Parlieren vom Orchester strukturiert getragen. Hoch und fahl in der Tessitura Rodney Gilfry als Pelléas. Laszlo Polgar mit schwarzem Bass als Arkel und Cornelia Kallisch mit dunklem Timbre als Geneviève verhörbildlichen das Absterben des Alters. Am schwersten hat es Isabel Rey als naiv-entseelte, puppenhafte Mélisande. Mit schön geführter, schlanker Stimme singt sie sich farbenreich durch die eindimensionale Figur.

Regisseur Sven-Eric Bechtolf traut dem von Debussy heraufbeschworenen menschlichen Mysterium nicht mehr, er stellt die «Décadence absolue» in den Vordergrund seiner Inszenierung. Nichts gedeiht mehr, keine Blumen, keine Farben, wiewohl im Stück permanent beredet. Die Bühne (Rolf Glittenberg) wird nach vorne begrenzt durch eine graue Turmfassade, die die entseelten Figuren gefangen hält. Hebt sich dieser undurchdringliche Wall, gibt er den Blick frei in eine dreigeteilte, überschneite Skulpturenlandschaft.

Puppen-Spiel

Die Regie konterkariert so Debussys «Menschlichkeit», es entsteht eine befremdende Diskrepanz zwischen farbigem Orchester und erstarrtem Geschehen. Jede Figur des Stückes erhält ein wächsernes Pendant in Lebensgrösse, Spielzeuge, die den Platz des «Originals» einnehmen. Goleaud schleudert seine scheinbar abtrünnige Mélisande(-Puppe) an den Haaren durch den Raum oder reisst in seiner Wut Söhnchen Yniol den Arm ab. Die Puppen, eine Meisterleistung der Werkstätten des Opernhauses, gemahnen an Pop Art, ebenso das weiss überzuckerte Citroën-Kultauto.

Es ist wohl das stimmigste Bild des Abends, wenn Mélisande, auf dem Autodach liegend, ihr Haar über den halb im Auto sitzenden «Geliebten» ergiesst und dieser das prächtige schwarze Haar im Türrahmen einklemmt. Wie immer gelingen Sven-Eric Bechtolf eindrückliche, liebevoll ausgespielte Szenen. Und doch ermüdet der schneeweiss-graue Abend auf die Länge, man schliesst die Augen und lässt sich durch das Farbenspiel und Wabern des Orchesters und das nuancierte Parlandosingen der Sängerinnen und Sänger dem Ende entgegentragen. Nicht zu glauben, dass der Abend für alle ein Rollendebüt war.