Vom schwierigen Umgang mit einem Märchen

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (16.11.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

Nach 29 Jahren zeigt das Zürcher Opernhaus erstmals wieder Claude Debussys Meisterwerk «Pelléas et Mélisande». Als romantische Oper.

Es hat jahrelange «leidenschaftliche Pilgerfahrten» nach Bayreuth gebraucht, bis sich Debussy von Wagner lösen konnte, bis er dessen Werk als «Schlussstein» erkannte, als etwas, das nicht weiterzuführen ist. «Folglich sollte man seine Erkundungen jenseits von Wagner treiben und nicht in seinem Schlepptau», schrieb Debussy - und tat 1902 genau das mit dem Drame lyrique «Pelléas et Mélisande», komponiert nach dem gleichnamigen Drama von Maurice Maeterlinck.

Wie viel Wagner sich trotzdem noch in seiner Partitur finden lässt, ist nun in der Zürcher Aufführung nicht zu überhören. Selten werden Debussys Traumklänge so direkt, so körperhaft gespielt; die Musik fliesst nicht dahin, sie wird getrieben, gestaltet, auf ihre Emotionalität hin abgehorcht. Behutsam zwar: Franz Welser-Möst kennt die Bedeutung der Stille in diesem Werk, er nimmt die Partitur in all ihren Details ernst, und das Orchester der Oper verfügt über einen irisierenden Pianoklang. Aber wenn sich die Musik etwa im Vorspiel zum vierten Akt vor lauter Wallen und Schwellen kaum mehr bändigen lässt, dann hört man unweigerlich zurück zu Wagner - und nicht vorwärts zu jener märchenhaften, zutiefst französischen Leichtigkeit, die mit diesem Werk ihren Einzug hielt in die Musikgeschichte.

Handfestes Eifersuchtsdrama

«Pelléas et Mélisande» als romantische Oper: Diese Sichtweise unterstützt auch Regisseur Sven-Eric Bechtolf, der mit Welser-Möst schon diverse Male gut zusammengearbeitet hat. Die nur in Andeutungen erzählte Geschichte der rätselhaften Mélisande, die Golaud heiratet, aber dessen Halbbruder Pelléas liebt, wird bei ihm zum handfesten Eifersuchtsdrama. Zwar hat er sich von Rolf Glittenberg eine zauberhafte Schneelandschaft bauen lassen, in der sich aussen und innen, Natur und Architektur, reale und emotionale Kälte in raffinierter Weise mischen - aber es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die sich darin bewegen.

Daran ändern auch die Puppen-Doppelgänger nichts, die sich (auch in diesem Haus) schon in so mancher Inszenierung bewährt haben und einmal mehr dafür sorgen sollen, dass Unausgesprochenes sichtbar und Ausgesprochenes hinterfragt werden kann. Am Anfang läuft der Dialog zwischen den Protagonisten, der ja schon bei Maeterlinck kein wirklicher ist, ausschliesslich über die Puppen; wenn der Regisseur nicht Bechtolf hiesse, könnte man nach dem ersten Akt eine Wette abschliessen, dass es so weitergeht, bis sich die Liebenden Pelléas und Mélisande dann als Einzige «richtig» begegnen.

Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Das Spiel mit Nähe und Distanz, das in diesem Werk so zentral ist, wird facettenreich gespielt, und immer wieder erweitern die doppelten Aktionen den Raum der Erzählung. So sind etwa die schlafenden Greise, auf die Pelléas und Mélisande in der Grotte treffen, ihre eigenen Doppelgänger - klarer kann man nicht zeigen, wie unlebbar das Leben auf diesem Schloss ist.

Öfter aber ist der Einsatz der Puppen eher praktisch als Sinn stiftend. Der rasende Golaud kann Mélisande weit textgerechter an den Haaren herumschleudern, wenn sie keine echte Sängerin ist, und der Geruch des Todes sticht Pelléas umso beissender in die Nase, wenn Golaud ihm sein Ebenbild unter einer Gasglocke vorführt. Nur: Ist das wirklich so naturalistisch gemeint? Denn naturalistisch bleiben diese Bilder, trotz ihrer ästhetisch attraktiven Künstlichkeit und manchmal selbst in ihren Symbolen: Das Planeten-Design von Marianne Glittenbergs schönen Kostümen etwa erinnert zumal bei Golaud an die Musterung eines Kampfanzugs.

Der Turm ist auch ein Auto

Auch die Stilbrüche, an sich wirksame Mittel gegen eine Festlegung der Handlung, funktionieren nicht immer. Das zeigte sich bei der Premiere am Sonntag insbesondere in der zentralen Turmszene: Mélisandes Turm ist ein Auto - und das Publikum hat gelacht. Das ist das Schlimmste, was in einer Aufführung dieses Stücks passieren kann. Komik, zumal unfreiwillige, ist das Ende jeder Märchenhaftigkeit, und wenn Pelléas Mélisandes Haare im Autofenster einklemmt, um sie festzuhalten, dann wird noch dem letzten Rest Poesie der Garaus gemacht.

«Pelléas et Mélisande» ist zweifellos eines der schwierigsten Werke für einen Regisseur. Eine reine Abbildung des Geschehens nimmt der Musik jene Freiheit, ohne die sie langweilig wird; Symbole gibt es schon im Text so viele, dass auch eine symbolhaltige Bildersprache scheitern muss; wie in fast jeder Oper geht es auch hier um Liebe und Hass, um Todesangst und Todessehnsucht, aber die Gefühle sollen wirken wie neu. Es gilt, das Geschehen mittels Menschen und Materialien, die den Gesetzen der Schwerkraft gehorchen, in der Schwebe zu halten: Die Fälle, in denen das misslingt, sind weit häufiger als die anderen (zu denen etwa Joachim Schlömers klug choreografierte Basler Inszenierung in der letzten Saison zu zählen wäre).

Lauter Rollendebüts

Dass Bechtolfs Inszenierung trotz aller Schwierigkeiten immer wieder unter die Haut geht, liegt vor allem an der Konsequenz, mit der sie am gleichen Strick zieht wie die Musik; auch wenn das Geheimnis gelegentlich fehlt, es funktioniert doch immerhin das Drama. Dafür sorgen auch die Sängerinnen und Sänger, die allesamt ihr Rollendebüt geben: Isabel Reys Mélisande ist keine rätselhafte «femme fragile», sondern eine gefühlvolle Frau, die weiss, was sie tut, und ihre Antworten mit lyrischem, intensivem Sopran verweigert.

Rodney Gilfry als Pelléas wirkt weniger greifbar, einerseits dank seinem leichten, in der Höhe allerdings hauchigen Bariton, andererseits im Kontrast zu Michael Volles Golaud, der seine tödliche Eifersucht mit geradezu belcantistischer Dramatik heraussingt. László Polgárs Arkel wird mit seinem väterlichen Bass im Lauf der Aufführung zunehmend zum Sympathieträger, Cornelia Kallisch beeindruckt als Geneviève vor allem mit ihrer sonoren Tiefe, und Eva Liebau gibt ihren Einstand im Zürcher Ensemble als Knabe Yniold mit wunderbar reiner, heller Stimme: In ihrer Erzählung von den Schafen gleitet das Stück in jene Sphäre des Irrealen, die Debussy vorgeschwebt hatte.

Ein Teil des Publikums hat das allerdings nicht mehr mitbekommen. Selten gab es nach der Pause so viele leere Plätze wie hier. Zu wenig romantisch sei es, war im Foyer verschiedentlich zu hören - und im Vergleich zu den Werken und Inszenierungen, die sonst auf diese Bühne kommen, stimmt das zweifellos. Es ist alles eine Frage der Perspektive.