Liebe und Tod im eisig-kalten Raum

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (16.11.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

Opernhaus Zürich: Premiere von Debussys «Pelléas et Mélisande» mit Franz Welser-Möst am Dirigentenpult

Die Erwartungen, die man an die Zürcher Neuproduktion von Debussys einziger Oper «Pelléas et Mélisande» hatte, waren hoch. Wenn jemand aus dieser symbolistischen und unterschwelligen «Antioper» etwas herauszuholen vermag, dann Sven-Eric Bechtolf mit seinem Ausstattungsteam.

Zudem war man gespannt, was Franz Welser-Möst mit dieser kammermusikalischen Ausdrucksintensität anfangen würde. Die Premiere am Sonntag offenbarte ein musikalisch und sängerisch grossartiges und geheimnisvoll vielschichtiges Tongemälde, welches die Regie mit «eisigem» Einheitsbühnenbild zu stark unterkühlte.

Gegenpol zu Wagner-Opern

So sehr Debussy Wagners Musikdramen bewunderte, er wollte dazu unbedingt einen Gegenentwurf machen. Dafür lieferte ihm der belgische Dichter Maurice Maeterlinck, der Wortführer der Symbolisten, die ideale Textvorlage. Keine äussere Handlung mehr, keine Leitmotive und kein Aufbrausen des erregten Orchesters. Seelische Regungen sollten verinnerlicht werden, symbolisiert in den Protagonisten und im Wort. Und auch wenn in diesem fünfaktigen Drame-lyrique sich so gut wie nichts entwickelt, zum Schluss gibt es darin doch zwei Tote - natürlich das Liebespaar.
Eigentlich geht es in «Pelléas et Mélisande» um eine banale Dreiecksbeziehung. Mélisande hat sich, verängstigt und verwirrt, im Wald verlaufen. Als sie Golaud, der im Wald auf der Jagd ist, findet, verliebt er sich sogleich in sie. Ihre Herkunft und ihre Identität bleiben rätselhaft, sie ist und bleibt die reine Unschuldsseele.

Eine Dreiecksgeschichte

Als sie Golaud heiratet und auf das uralte und düstere Schloss Allemonde bringt, verliebt sich Mélisande in den jüngeren Halbbruder von Golaud, in Pelléas. Diese Liebe bleibt unausgesprochen, doch ist sie hintergründig in der Musik deutlich spürbar. Auch wenn sich die beiden Liebenden nie intim begegnet sind, steigert sich die Eifersucht von Golaud bis hin zum Mord am Halbbruder.
Die Musik tritt in diesem symbolistisch entrückten Seelengemälde stark in den Vordergrund. Sie wird direkt aus dem Sprachfluss und Sprachklang des Französischen heraus entwickelt und ist kammermusikalisch fein und intensiv. Farbenreiche Bläserpartien wechseln mit dichten und zum Teil stark dissonanten Streicherklängen, die unaufgelöst stehen bleiben. Die Bedeutung der entrückten Traum-Sprache findet hier ihre intensive und sehr genaue Auslotung. Franz Welser-Möst gelang es, die Intimität und die Kraft dieser kammermusikalischen Fraktur bis ins Detail auszudeuten. Die Bläser mischten sich leuchtend und dunkel in allen Farben, und die Dissonanzen wurden dramaturgisch effektvoll zugespitzt.

Am Stück vorbei inszeniert

Regisseur Sven-Eric Bechtolf schien von dieser intensiven Musik gänzlich unberührt. Er schrieb sich in erster Linie die Undramatik, die man Debussy von Beginn weg vorwarf, auf sein Regiebanner. Seine «Pelléas et Méliasande» spielt sich in einem ästhetisch schönen, dreiteiligen Drehbühnenbild von Rolf Glittenberg ab: in grauen Mauern, einengenden Gängen und eisigem Schnee. Nirgends ein Baum, kein Anzeichen von Wald, kein Garten, und auch das Wasser, das erquickende wie das abgrundtiefe, ist eingefroren.
Damit verzichtet Bechtolf gänzlich auf die Natursymbolik, die für Debussys Musikverständnis doch von zentraler Bedeutung war. So modern surreal die von Marianne Glittenberg auf den Kostümen abgebildeten Kraterlandschaften von Planeten wirken, und so reizvoll die alte Citroën-Limousine im Schneegestöber an Stelle des dunklen Gartens ist, die Symbolik ist eine ganz andere.

Regie spielt mit Puppen

Ein dramaturgisch wirkungsvoller Einfall sind jedoch die Puppen, die Bechtolf zu jeder Figur als naturgetreues Abbild anfertigen liess. Mit diesen Doppelgänger-Puppen gelingt ihm eine sinnbildliche Auflösung der Identitäten, und die Erweiterung der statischen Szenerie um eine ganze Spielebene. So hält zum Beispiel Golaud die Mélisande-Puppe im Arm, während Isabel Rey zusammengekauert in einer Ecke die Partie singt. Die schaupielerische Präsenz, die dadurch von allen Protagonisten gefordert wird, ist beträchtlich.
Zu diesem «Schauspiel» passt der Parlando-Gesang, in welchem sich die Sängerinnen und Sänger entfalten. Dabei bot ihnen die Musik aus dem Orchestergraben eine eng am Wort orientierte Stütze. Dieses Ineinander von Instrumentalem und Vokalem gelang mit Bravour. Eine grossartige Leistung vollbrachte Michael Volle als abgründiger Golaud. Seine Bühnenpräsenz und schauspielerische Ausdruckskraft stand seiner stimmlichen Grösse und Intensität in nichts nach. Als sinnbildlicher Kontrapunkt dazu ist die mörderisch hoch gesetzte Baritonpartie des Pelléas gedacht, mit welcher Rodney Gilfry dem düsteren Geschehen - trotz vereinzelter Schwierigkeiten im Grenzbereich - eine lichte Note verlieh.

Rollenbesetzung überzeugte

Isabel Rey hatte die undankbare Aufgabe, die kindliche und doch geheimnisvolle Unschuldsseele der Mélisande zu verkörpern. Sie tat dies mit sinnlicher Farbgebung und schlanker Stimmführung. Dazu setzte Cornelia Kallisch mit dunkel abgerundeter Altstimme eine erdige Mutter Geneviève. Der helle und glockenreine Sopran von Eva Liebau, die den Knaben Yniold mit betörender Naivität sang, passte ausgezeichnet dazu. Von besonderer Klarheit und markanter Männlichkeit war die Basspartie von Lászlê Polgár, der dem König Arkel eine berührende Menschlichkeit verlieh.
Wie subtil sich die Sänger, die allesamt ihr Rollendebüt gaben, mit dem Orchester im Zwiegespräch entfalteten, das war die grossartige Seite dieses szenisch zu unterkühlten Abends, der vor allem im zweiten Teil einfach kein Ende nehmen wollte.