Vereiste Seelen in Gefrierräumen

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (16.11.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

Am Opernhaus inszenierte Sven-Eric Bechtolf Debussys einzige Oper «Pelléas et Mélisande»

Alles ist Symbol: die Bühnenräume, die Menschen, ihre Gefühle und Stimmungen. Traumhaft und gleichzeitig derart lebenswahr, dass sich im Publikum viele provoziert fühlten, die Aufführung in der Pause verliessen oder sie zurn Schluss verärgert verbuhten. Ein Missverständnis: Diese Inszenierung setzt neue Richtlinien in der Rezeption des Werks.

Es scheint, dass Missverständnisse seit eh dazu gehören. Zwei Wochen vor der Uraufführung seiner Oper «Pelléas et Mélisande» (im April 1902) hiess es in der Pariser Presse, Claude Debussy habe Selbstmord begangen. Dabei hatte er nur eine Duellforderung abgelehnt - allerdings eine Duellforderung ausgerechnet seines Librettisten Maurice Maeterlinck. Der Grund: eine Frau. Genauer: die Sängerin der Mélisande. Maeterlinck wollte seine Gefährtin Georgette Leblanc durchsetzen, Debussy war dagegen, worauf Maeterlinck in «Le Figaro» einen offenen Brief an den Komponisten veröffentlichte, der mit den absurden Worten schloss: «Ich wünsche dem Werk einen vollständigen Misserfolg.»

Das war das erste einer Reihe von Missverständnissen, welche seither Debussys einzige vollendete Oper verfolgen (er versuchte sich insgesamt an über vierzig Opernprojekten). Das zweite war die negative Reaktion auf die durch Zwischenrufe und andere Missfallenskundgebungen mutwillig gestörte Uraufführung. «Kränklich und ohne Rückgrat» las man tags darauf in der kritischen Tagespresse. Was in der Sache halbwegs richtig, in ihrer Wertung aber völlig falsch ist.

Nervenkunst

Richtig ist, dass dem Drama Maeterlincks das herkömmliche Rückgrat fehlt, nämlich eine Handlung. Was sonst essentiell äusserliches Geschehen ist, verlegte der Dichter ganz ins Innere seiner Figuren, was durchaus dem impressionistischen Lebensgefühl der damaligen Jahrhundertwende entsprach: Die Welt wird nicht als Ausdruck, als objektivierbares Gegenüber erfahren, sondern ausschliesslich als Eindruck und somit als Teil der eigenen Subjektivität. Man hat in diesem Zusammenhang treffend von «neu-romantischer» Kunst gesprochen, könnte noch treffender von «neuro-mantischer» Kunst reden, von Nervenkunst also - eine Begriffsbildung freilich, «von der zum Ruf nach dem Nervenarzt und der Einweisung in die Irrenanstalt der Schritt nicht mehr allzu gross ist». (Peter Szondi)

Das hat Folgen für die Oper Debussys. Maeterlincks Gestalten sind keiner psychologischen Entwicklung unterworfen und haben keinerlei Einsicht ins schicksalhafte Weltgeschehen; sie agieren nicht, sondern reagieren nur auf Gegebenes, gefangene Seelen alle. Zum Ausdruck kommt das in Maeterlincks Sprache, poetisch derart dicht und trunken von atmosphärischen Klängen, dass sie das eigentliche Drama darin gleichsam ertränkt. Dazu hat Debussy eine «musique de silence» erfunden, hat die Pause, das Schweigen, als Gestaltungsmittel entdeckt, und er lässt die Musik nur dort wirklich eingreifen, wo es um Unaussprechliches geht, wo Worte versagen.

Lebenswinter

Wie aber visualisiert man eine Welt, die sich derart konsequent der Objektivität verschliesst und sich ganz ins Subjektive zurückzieht? Bühnenbildner Rolf Glittenberg gibt darauf Antwort ganz aus dem Zeitgefühl der Entstehungszeit der Oper heraus: mit symbolischen Räumen nämlich, die nicht das Gegenständliche dessen meinen, was sie darstellen (oder eingrenzen, umschliessen resp. offen lassen), sondern darüber hinausweisen. Es sind subjektive Räume, reine Gefühlswelten - allerdings eine Welt gefrorener Gefühle. Lebenswinter sozusagen.

Eine mächtige Mauer wächst in endlose Höhe und begrenzt die Bühne nach hinten in einem Halbrund. Gleichzeitig lässt sie durch eine Bogenöffnung, abermals im Halbrund, einen Blick nach hinten frei in die (räumliche) Tiefe, wo erneut durch zwei im Halbrund geformte Mauern je eigene Raum- oder Gefühls- oder Bewusstseinsbezirke eingegrenzt werden. Diese sind auf einer Drehbühne aufgebaut, was den vielen Szenenwechseln in dieser Oper (bei offenem Vorhang) ideal entgegenkommt.

Licht gibt es vor allem als Hell-Dunkel-Kontraste; die weisse Schneelandschaft reflektiert und blendet. Und nur selten mischt sich ein Farbton dazu: ein tiefblauer beim Gang in die Grotte, beim Heruntersteigen in die Schlossgewölbe (ins unterirdische Bewusstsein), ein blutroter in der Szene im vierten Akt, wo Yniold abends den vorbeiziehenden Schafen nachblickt, die alle den falschen Weg gehen: nicht zum Stall zurück nämlich, also wohl zur Schlachtbank.

Endzeitgesellschaft

Solche Räume veranschaulichen das Ausgesetztsein der hier ihr Leben fristenden Menschen auf beklemmende Weise. Gefangene Seelen sind sie alle, eingekerkert in ihrer eigenen Subjektivität und also nicht fähig zur Kommunikation mit einem Gegenüber. Mit wem sie auch sprechen - sie erreichen nie den andern, sondern kommunizieren (gleichsam im Selbstgespräch) nur mit der je eigenen Vorstellung dieses Anderen.

Regisseur Sven-Eric Bechtolf visualisiert diese egomanische Befindlichkeit in Form einer Endzeitgesellschaft, die bereits in Rollstühlen sitzt, bald am Ende ihrer Welt-Träumereien ist und damit das Ende dieser Welt auch schon ahnen Iässt. Und er visualisiert es durch ein subtil inszeniertes Spiel mit Puppen. Das mag, auf den ersten Blick, unsere herkömmliche Optik verstören: Wenn Pelléas zu Beginn der Oper Mélisande trifft, die, mit dem Rücken zum Publikum, auf einem Schiff sitzt, und er mit ihr zu sprechen beginnt, tritt gleichzeitig die «Iebendige» Mélisande auf. Denn Pelléas spricht zu einer Puppe auf dem Schiff - nämlich zu seiner Projektion einer Mélisande.

Ausgellefertsein

Mit solchen subjektiven Projektionen ist die Bühne voll, und mit ihnen, den «Doppelgängern», und den lebendigen, den «eigentliche» Menschen, spielt Bechtolf nun ein faszinierendes, ungemein suggestives Spiel ums Vorhanden- und Nichtvorhandensein von Realität, um die psychologisch so komplexen Beziehungen zwischen Traumverlorenheit und Lebenswahrheit, um das Ausgeliefertsein dem eigenen Unbewussten und dessen Projektionen gegenüber. Und er spielt dieses Spiel, das sei besonders betont, mit einer derart behutsamen Liebe zu den Figuren (anders vermöchte ich es nicht zu nennen), dass diese gerade dort, wo sie den Mitmenschen nicht erreichen, so ungemein menschlich - und darin verletzlich - wirken.

Szenisch umgesetzt wird das von den Sängerinnen und Sängern in einer derart kongruenten Weise, dass selbst der musikalische Eindruck kaum mehr vom szenischen ablösbar ist. So exzellent, wie sie alle ihre Rollen resp. die Innerlichkeit ihrer Rollenbefindlichkeiten ausspielen, so exzellent wirken sie auch als singende Darsteller. Und so fälIt es, eigenartiger Befund, überhaupt nicht ins Gewicht, wenn rein sängerisch ein paar Abstriche gemacht werden müssen.

Bei Rodney Gilfry etwa, dem die Partie des Pelléas zu hoch liegt und der mit seiner markigen Baritonstimme sowohl in der Diktion wie im Timbre kaum über die Geschmeidigkeit eines «Baryton-Martin» verfügt. Isabel Rey tönt als Mélisande - anfänglich mit nur knapp kontrolliertem Vibrato - zu entschieden, zu diesseitig, zu geheimnislos, und dennoch verleiht sie dieser Figur Züge einer anrührenden, mädchenhaften Traumverlorenheit.

Ereignishaft

Einen grossen Abend hat Michael Volle als Golaud, weil er nicht nur mit kräftigem Bariton auftrumpft, sondern gleichzeitig seine Verletzlichkeit, seinen weichen inneren Kern, gleichsam auf der Stimme trägt. Famos. Laszlo Polgar singt den abgeklärten, halbblinden Arkel mit balsamischem Bass: fast ein Vorecho auf eine Zeit, wo alles gestorben sein wird und friedlich ruht. Ebenso eindringlich agieren Cornelia Kallisch als Geneviève und Eva Liebau als Yniold. Für sämtliche Sängerinnen und Sänger übrigens ein Rollendebüt.

Und einen ganz grossen Abend hatte Franz Welser-Möst und mit ihm das Orchester der Oper Zürich. Wann je hat man Töne von solch fein ziselierter Fragilität gehört, immerr näher am Verstummen als am Aufbauschen? Dass weniger in der Tat mehr ist, dass Debussys Musik gleichsam die luzid transparente Sprache einer fein linearen Anspielung spricht und nicht mit kräftig geführtem Pinsel abmalt, was eh auf der Bühne vor sich geht, das wird in dieser Aufführung ereignishaft deutlich und zeigt die zukunftsweisende Bedeutung dieser Musik - und überhaupt dieser Oper - in hellstem Licht. Wie gesagt, diese Neuinszenierung setzt neue Richtlinien in der Rezeption des Werks.