Debussy und seine Doubles

Manuel Brug, Die Welt (01.12.2004)

Pelléas et Mélisande, 14.11.2004, Zürich

In Zürich wuchsen Dirigent Franz Welser-Möst und Regisseur Sven-Eric Bechtolf zu einem der wichtigsten Duos des Musiktheaters

Eine ferne Operngalaxie, grauweiß und eiskalt. Hinter einem ausgeschnittenen Halbkreis bogenförmiges Wellblech und eine Kanzel im Kunstschnee. Auf die Anzüge der Männer sind Oberflächenschraffuren von Planeten gedruckt. Stoff, aus dem frösteln machende Märchen sind. So wie das von Pelléas, der Mélisande, die seltsame Frau seines Halbbruders Golaud, liebt. Debussys symbolistisches Meisterwerk scheint gegenwärtig im konjunkturellen Auf: Sven-Eric Bechtolf hat es eben an Zürichs Oper als kühl konzentrierte Kunstübung inszeniert. Und Franz Welser-Möst dirigiert es in diesem Geist.

Ein so kunstvoller wie knapper, sich dem einfachen Genuß verweigernder Abend, erstellt von einem der augenblicklich international interessantesten Musiktheater-Duos neben Peter Konwitschny und Ingo Metzmacher, Jürgen Flimm und Nikolaus Harnoncourt, Peter Mussbach und Kent Nagano, Marc Minkowsky und Laurent Pelly. Die beiden haben sich an der Oper Zürich gefunden, in Alexander Pereiras großem Gemischtwarenladen, der mit dieser Kuppelei endlich einmal eigenes Profil entwickelt hat.

Nach dem Überraschungserfolg mit Bergs "Lulu" als sadomasochistischer Zuchtübung im Jahr 2000 (auch schon mit Puppe) ging Bechtolf - zusammen mit seinem Ausstatterduo Marianne und Rolf Glittenberg, das nach Bondy ebenfalls einen neuen Regisseur gefunden und zur Oper verführt hatte - nur einmal fremd - und griff an der Deutschen Oper Berlin mit den komplexen "Hoffmanns Erzählungen" 2002 voll daneben. Heute sieht er das auch so.

Ein Arroganter, ein Schwieriger, der freilich viel Unsicherheit hinter solchen halbstark-zurückweisenden Gesten verbirgt, ein Unzufriedener auf der Suche nach dem vollkommenen Theaterglück, das es nie geben kann: Das ist der 1957 in Darmstadt geborene, in Hamburg aufgewachsene Bankierssohn Sven-Eric Bechtolf. Als Schauspieler kam er über Zürich, Bochum, zehn Jahre Thalia Theater Hamburg nach ganz oben. Seit 1998 spielt er am Burgtheater Wien. Seine Regisseure hießen Breth, Besson, Berghaus, Bondy, Kriegenburg, Stein, Wilson.

Aber bloß keine Identifikation. Regisseur Bechtolf hält sein Gegenüber auf Abstand. Und sucht den auch in seinen Musiktheater-Figuren. Die zeitweilig im Rollstuhl ihre Seinsverkrüppelungen vorführenden Debussy-Protagonisten sollen in ihrer Traumwelt des Unterbewußten auf Distanz gehalten werden. Auch mit Hilfe Puppen, auf die alle Gefühle projiziert werden zwischen Liebe und Haß, Geburt und Tod - Dummies im emotionalen Crashtest. Debussy und seine Doubles. Zwischen wenigen Requisiten, leeren Aquarien, einem mal weiß, mal schwarz bezogenen Bett, bleibt alles im Frage- und Schwebezustand, wird zeichenhaft, wenn die berühmte, von Golaud belauschte Szene im Turm in und auf einem zugefrorenen Citroen lokalisiert ist. Ein fragil-sprödes Beziehungsgefüge fordert höchste Aufmerksamkeit. Die auch der Schauspieler Bechtolf fordert. Er war oft der Außenseiter, der rebellierend Schwierige. Oder - zuletzt als Fiesco, Philipp II. und Schnitzlers Fabrikant Hofreiter, als Prinz in "Emilia Galotti und, wunderbar boulevardesk, in Jasmina Rezas "Dreimal Leben" - der gebrochene Machtmensch, der verwundete Potentat.

Und er wurde doch zum Wertkonservativen, zum enttäuschten Umstürzler, der kraftvoll ablästerte über den "Qualm, der am Stadttheater aus den Dramaturgien quillt", über "abartige Gedankengebilde", "biedermeierliche Sozialliberale", "Meinungsmüll, dahingelallte Zustandsbeschreibungen", der "Respekt, Geduld, Bildung, Analyse, gesunden Menschenverstand" einfordert.

Ein Waidwunder, Verletzter, in seiner Liebe Verschmähter. Der es, nach ersten Theaterregien in Hamburg und Wien seit 1994, mit Marivaux' "Der Streit" zum Theatertreffen schaffte und - seit 1996 in der Leitung des Thalia Theaters - sich sogar Hoffnung auf die Flimm-Nachfolge machen durfte; doch daraus wurde nichts. In Wien hat Bechtolf zuletzt 2001 mit mäßigem Erfolg Büchners "Leonce und Lena" inszeniert, im letzten Jahr gab es peinsam dramatisierte Lyrik des Pianisten Tzimon Barto in Frankfurt. Jetzt will er am Theater nur noch spielen - und erfährt Regiegenuß in der Oper.

Wahrscheinlich kam die Zürcher Anfrage in einem glücklichen Moment. Für beide Seiten. Hier fand Bechtolf "echte Profis, die etwas können und das auch zeigen wollen", nicht nur "Kleinkunst" mit Akteuren, die höchstens "Dialekte nachmachen und Witze erzählen können". Und wagte das für ihn zunächst Unmögliche. Auch mit dem 44-jährigen Dirigenten Franz Welser-Möst - eben auf dem Absprung nach Cleveland -, der sich in der Schweiz glänzend vom überforderten Orchesterzuchtmeister zum gesuchten Operndirigenten gewandelt hatte, machte es gleich Klick. Zusammen mit dem Szenaristen-Ehepaar Glittenberg, das Bechtolf ins Quartett mit einbrachte, besetzt man eine rare Inszenierungsposition im internationalen, besonders in Deutschland gern auf die Spitze getriebenen Operngewerbe: intelligent, aber nicht umstürzlerisch, eigensinnig und überraschend, aber nicht verbiestert querdenkend, modern, aber trotzdem dem kunstvollen Zauber des Theaters verpflichtet.

"Ich bin ein altmodischer Jockel, ein Reaktionär ohne Antworten und sehe mit einigem Entsetzen, was Mode ist", kommentiert Bechtolf kettenrauchend den Ist-Zustand. Dem er mit Verdis "Otello", Korngolds "Toter Stadt" und dem "Rosenkavalier" in der Schweiz schönste Gegenbeispiele entgegengesetzt hat. Zürich muß ihn sich künftig freilich mit Wien teilen, den Welser-Möst erfährt endlich, von Salzburg bis zur Wiener Staatsoper, in Österreich plötzliche Liebesaufwallung. In der nächsten Saison bringt das Duo an der Donau die "Arabella" von Strauss heraus, ab 2007 startet dort mit der "Walküre" ein neuer "Ring", ganz "ohne Diplomatenkoffer und Großraumbüros". Inzwischen fühlt er sich offenbar wagnersicher, vor zwei Jahren sagte er noch: "Das traue ich mir nicht zu, das erschlägt mich". Die Schweiz wird zwischendurch mit einem neuen Mozart/da Ponte-Zyklus beglückt.

Am Schluß der Zürcher Debussy-Oper trippelt Mélisande übrigens lachend in lila Robe mit einem goldenen Ball davon, ihr totes Double zurücklassend. Eine der vielen Untoten, überlegenen Fantasmagorieren in Sven-Eric Bechtolfs Musiktheaterreich.