Programmatische Unterkühltheit

Torbjörn Bergflödt, Aargauer Zeitung (18.10.2004)

Manon Lescaut, 16.10.2004, Zürich

Gruss von Sartre: «Manon Lescaut» am Opernhaus

Die Endlos-Weite? Ist klaustrophobisierend eng. Auf einem unendlich scheinenden Ödland spielt der vierte Akt im Originallibretto von Puccinis «Manon Lescaut». Der Regisseur Grischa Asagaroff und sein Ausstatter Reinhard von der Thannen haben nun in Zürich das dialektische Gegenteil imaginiert. Der variierte Einheitsraum, in dem sie das Vier-Stationen-Drama von Manon und ihrem Liebhaber Des Grieux ansiedeln, schliesst sich (noch mehr) zusammen. Die durch den ganzen Abend geschleppten schwarzen Koffer, Chiffren für Unbehaustheit und nomadisches Leben, mögen jetzt zu Sarg-Metaphern hinüberspielen. Aber halt! Als Manon wirklich stirbt, lassen Asagaroff und von der Thannen die Decke des geschlossenen Raumes hochfahren. Und auch, wie jene «Sonne» von Manons Schlussgesang, eine der Leuchten. In einem Bühnenfenster hinten erscheint nochmals die Kutsche aus dem ersten Akt.

Sartre und Beckett grüssen herein in diese Neuinszenierung am Zürcher Opernhaus, die der Gefahr von Sentimentalität bei Puccini mit einer programmatischen Unterkühltheit wehrt, die nicht Herzenskälte bedeutet, und mit einer ästhetischen Bebilderung, die sich nicht ans Geschmäcklerische verrät. Die Handlungszeit erscheint von der Rokokozeit ins beginnende 20. Jahrhundert verlegt. Die leerlaufenden Kutschenräder und eine sich drehende (Schiffs-)Schraube werden zu Sinnbildern für Stillstand in der Bewegung sowie das Räderwerk der Fortuna. Und immer formieren sich die Leute in dem Raum zu einer «geschlossenen Gesellschaft».

Italianità im Gefühlskern

Marcello Giordani hat die «amour fou» beim Studenten Des Grieux mit rückhaltlosem vokalem Engagement vergegenwärtigt, wobei der Tenor über eine veritable «Verismo-Gurgel» verfügt, die sich selbst noch gegen ein brausendes Orchestertutti zu behaupten vermag. Die Sopranistin Sylvie Valayre, die mit einem gleichfalls wunderbar strahlkräftig-raumfüllenden Organ wirkte, war, richtigerweise, keine psychologisch sich erklärende Manon, sondern eine Art von Elementarweib. Carlos Chausson gönnte Geronte, dem ältlichen Liebhaber auf Zeit, etwas französischen Puder. Manons Bruder Lescaut erschien bei Cheyne Davidson als geschwisterlicher Spielkomplize. Der von Jürg Hämmerli einstudierte Chor des Hauses bewies eindrückliche Schlagkraft. Santis Puccini atmete die Glut einer direkt auf den Gefühlskern zielenden Italianità und war doch gleichzeitig objektiv gebändigt, wobei das Orchester fallweise eine enorme Durchschlagskraft entwickeln konnte.