Tobias Gerosa, Der Bund (18.10.2004)
Con brio: Nello Santi macht am Opernhaus Zürich Puccinis «Manon Lescaut» zum aufregenden Ohrenschmaus
Herzlicher Applaus schon am Anfang, Jubel nach der Pause und nach dem Intermezzo: Nello Santi ist in Zürich ein Publikumsliebling – und wenn man hört, mit welcher stilistischen Sicherheit, welchem untrüglichen Sinn für Agogik und Rubato er das Opernhausorchester (mit ein paar exponierten Patzern) und seine Sänger jetzt durch die Partitur der «Manon Lescaut» führt, wird unmittelbar verständlich, warum. Santi versteht die Musik sinnlich aufrauschen zu lassen, nimmt sie aber immer wieder auch zurück ins Leise. Kein Verismo, sondern ein wirkliches «Dramma lirico» mit Wurzeln im Belcanto.
Sängerisch kann Marcello Giordani davon am meisten profitieren. Bei seinem Rollendebüt als Des Grieux stösst er zwar an dramatische Grenzen (und dies geht dann auch nicht ganz spurlos an den lyrischeren Passagen vorüber), doch er gestaltet die verzweifelte Liebe zu Manon musikalisch reich und überlegt, mit vielen Piani. Den jugendlich-ungestümen Liebhaber nimmt man ihm allerdings nur stimmlich ab, darstellerisch bleibt er eher reserviert. Das passt zum strengen grauen Anzug, den ihm Ausstatter Reinhard von der Thannen verpasst hat, zeigt aber auch, wie wenig Regie auf Personenführung verwendet wurde.
Ironie und Leichtigkeit
Regisseur Grischa Asagaroff verzichtet weitgehend auf eigene Ideen zum Stück, hat aber immerhin die Operngesten verhindert und gibt den Nebenfiguren und Chorszenen der ersten beiden Akte komödiantische Leichtigkeit. Wie auf einer Kontrastfolie erscheint die Liebe zwischen Manon und Des Grieux davor noch tragischer.
Geronte, der reichen Freier Manons, den Carlos Chausson mit bitterem Grimm und vollem Bariton spielt, gerät dabei prächtig nahe an die Karikatur. Allerdings ohne seine Gefährlichkeit zu verlieren. Cheyne Davidson als Manons ältlicher Bruder (eine undankbare Rolle) hingegen trägt nicht nur stimmlich zu wenig. Ironie, die vor allem in der Ausstattung dann und wann aufblitzt und zusammen mit dem eindrücklichen Bühnenbild für den optisch überzeugenden Rahmen der Aufführung sorgt, ist seine Stärke nicht.
Von der Thannen und Asagaroff verlegen die Geschichte in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Kalt und hell ist die elegante Halle des Bühnenbildes, die an berühmte Fotos der New Yorker Central Station erinnert. Wie Buster Keaton kommt das Personal (der von Jürg Hämmerli gut vorbereitete Chor) des ersten Aktes daher. An Film lässt auch die Ankunft der Kutsche denken: Wie auf einer Leinwand rollt sie – unerreichbar – oben an der Rückwand ein. Später wird dort im selben Raum hochästhetisch ein Meer aus roten Lichtern die Glamourwelt des zweiten und eine bedrohliche Schiffsschraube den Hafen des dritten Aktes symbolisieren. Die Ästhetik kippt aber in Ästhetizismus (oder die Ironie in Zynismus), wenn das Schiff, das Manon und die andern verurteilten Prostituierten nach Amerika bringen soll, mit seinen strahlend weissen Matrosen und seiner gläsernen Freitreppe an einen Luxusliner erinnert. Mit dem schlichten vierten Akt wird dieser Ausrutscher jedoch rasch korrigiert.
Denn hier, im grossen, tragischen Schlussduett, lässt die Musik keine Ironie zu. Dafür wachsen die Ansprüche an die Titelfigur noch einmal. Sylvie Valayre bleibt ihr vokal einiges schuldig. Entschuldbar, denn eigentlich müsste man für die Rolle über mehrere Stimmen verfügen: eine mädchenhaft leichte für den Anfang und eine lyrisch-dramatische für die Fortsetzung. Problematisch ist, dass Valayres Sopran verbraucht klingt, schwer und vibratoreich und in den Spitzentönen steif und fahl. Ihr Gestaltungswille und ihre darstellerische Intensität helfen darüber hinweg. Das vokale Schweben auf der Melodie, das für Puccinis Primadonnen so typisch ist, gelang bei der Premiere aber nur im zweiten Akt.