Lieben - Sterben in Verzweiflung

Herbert Büttiker, Der Landbote (18.10.2004)

Manon Lescaut, 16.10.2004, Zürich

Kühle Ambiance für eine leidenschaftliche Liebe
Im Opernhaus Zürich glüht Puccinis «Manon Lescaut» in der Musik.

Als sich Puccini für den berühmten Romanstoff des Abbé Prévost entschied, sprach vieles gegen das Sujet. Seit ein paar Jahren machte Jules Massenets «Manon» Karriere, und die dramaturgische Mühe war gross: Nicht weniger als sechs Mitarbeiter mühten sich wechselnd um ein «italienisches»Libretto, bis das Werk 1893 an der Scala zur Aufführung gelangte. Aber es hatte eben sein müssen: Mit «Manon Lescaut» kam Puccini zu seinem Thema und zu seiner Musik der «passione disperata». An der Verstrickung des Chevaliers des Grieux und der wankelmütigen Manon entzündete sich seine musikalische Inspiration einer Musik der Leidenschaft und Verzweiflung, der entgrenzenden Gesangsmelodik und einer gereizten Klangsinnlichkeit des Orchesters. Vier Akte sind darauf hin angelegt und führen vom intimen Zauber der ersten Begegnung zur dramatischen Wiederbegegnung der im Pariser Salonluxus lebenden Dame mit dem Mann, den sie geliebt hat, und von der wiederum dramatischen Abschieds- und Vereinigungsszenerie im Hafen von Le Havre zur schliesslich wieder ganz intimen Sterbeszene der Manon in der amerikanischen Wüste.

Packendes Rollendebüt

Sängerisches Format im grossen Spannungsbogen ist da herausgefordert und zumal für die Darstellerin der Manon auch die Kunst, Gegensätzliches zu verbinden, Koketterie und Brillanz mit Wärme und Leidenschaft. Sylvie Valayres Sopran neigt zur Schwere, und der gar mädchenhaft-verschämte Auftritt verstärkt das Disparate ihres ersten Aktes. Mit der zunehmenden dramatischen Intensität, in der sich freilich auch stimmliche Ermüdungen bemerkbar machen, wächst ihre Figur in die letzte Szene und das «Sola, perduta, abbandonata» hinein. Geradlinig, impulsiv, mit tenoraler Strahlkraft, die heute wenig Konkurrenz zu scheuen hat, gestaltet Marcello Giordani den Des Grieux überlegen. Im Schluss des dritten Aktes kulminierte ein beeindruckend intensives Rollendebüt,das zweifellos und auch vom Publikum gefeiert das Ereignis dieser Premiere war.

So zentral die Arien- und Duettmomente das Werk tragen und so dominant Sopran und Tenor die Aufführung beherrschen: Puccini erweist sich schon in «Manon Lescaut» auch als grosser Szenenmaler. Die heitere Piazza-Stimmung im ersten Akt, der dünnblütige Rokoko-Zauber im zweiten, die Dumpfheit der Massenhysterie im dritten und die Unwirtlichkeit im vierten – das alles bedeutet nicht nur instrumentale Fülle, mit der das Orchester glänzt, sondern auch eine beachtliche Zahl von Figuren und Nebenfiguren. Die Zürcher Oper mobilisiert ein musikalisch überaus farbiges und sattelfestes Ensemble, angefangen beim Chor über markante Episodenfiguren (Judith Schmid als Musico, Peter Keller als Maestro di ballo, Andreas Winkler als Lampionaio etwa) bis zu den neben den Protagonisten wichtigen Handlungsträgern, zu denen Boguslaw Bidzinskis prägnanter Edmondo gehört, vor allem aber Cheyne Davidsons Lescaut – trotz pointiertem musikalischem Einsatz als Figur ein wenig blass – und Carlos Chaussons Geronte, der hier auf überzeugende Weise über die reine Karikatur der Dekadenz hinaus als glaubwürdige Figur erscheint.

Die Inszenierung verfährt mit all dem nicht nur glücklich. Grischa Asagaroff und sein Bühnen- und Kostümbildner Reinhard von der Thannen haben sich mit einigen Grundlagen ihrer Arbeit Steine in den Weg gelegt. Obwohl nur der zweite Akt in einem Innenraum spielt, haben sie sich für eine geschlossene Einheitsbühne mit hohen kassettierten Wänden, hochgelegten kleinen Fenstern und schmalen Türen und für eine Beleuchtung im kalten Neonlicht entschieden: ungeeignet für die Strassen- und Wüstenszenerie und am stimmigsten als Pariser Salon, wenn auch nicht des 18. Jahrhunderts. Die Kostüme verweisen auf die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts – nicht die Zeit des jungen Puccini also, aber auch nicht konsequent die Zeit des arrivierten Liebhabers teurer Automobile: Manon entsteigt im ersten Akt einer aufwendig rekonstruierten Kutsche (die Opernhauszeitschrift widmet ihr eine Doppelseite). Amortisiert wird sie, wenn sie am Ende der Oper mit dubioser symbolischer Wirkung noch einmal sichtbar wird.

Sterben im Bühnenbild

Gerade diese Oper, die statt im romanhaften Zusammenhang der Handlung sprunghaft in einzelnen Momenten aufgeht, wäre umso mehr auf die Plausibilität des Augenblicks angewiesen, und plausibel wirkt zu vieles nicht, angefangen bei den flanierenden Studenten und Bürgern, die sich mit ihren Koffern hier offenbar in einem Wartesaal auf den Füssen herumstehen, und aufgehört bei der Frage, an welchem verteufelten Ort sich Manon und Des Grieux wohl befinden, wo zwar die Neonleuchtkörper noch strahlen, aber kein Tropfen Wasser aufzutreiben ist.

Statt vor dem weiten Wüstenhorizont ein Sterben im Bühnenbild: Das bedeutet, dass die Inszenierung zur Eindrücklichkeit von Puccinis «passione disperata» nicht sehr viel beiträgt. Was die Aufführung aber diesbezüglich insgesamt leistet, ist fesselnd genug – auch dank Nello Santis Dirigat. Zwar nimmt seine Neigung, lyrische Tempi breit zu nehmen und mit ausgekosteten Ritardandi zusätzlich zu verlangsamen, dieser Musik einiges von ihrem jugendlich drängenden Atem. Wo expressive Spannung die Wirkung sein könnte, kommt sie jetzt aus der Schwere – ein altes ist mittlerweile zum Altersphänomen des Maestros geworden. womit er auch deshalb für sich spricht, weil er andererseits Puccinis Brillanz und Verve temperamentvoll angeht wie eh und je.