Der Protagonist am Pult

Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (18.10.2004)

Manon Lescaut, 16.10.2004, Zürich

Puccinis «Manon Lescaut» im Opernhaus Zürich

Vor vierundvierzig Jahren hatte Nello Santi Giacomo Puccinis frühe Oper «Manon Lescaut» erstmals im Opernhaus Zürich dirigiert. Welche Reife hat unterdessen seine Sicht auf diese gar nicht einfache Partitur erlangt! Sie sind da, all die grossen Gefühle, welche diese Oper tragen und die manchmal leicht ins Rührselige kippen könnten; Santi dosiert sie heute so genau, dass man atemlos zuhört. Er mischt Puccinis raffinierte Orchesterfarben beeindruckend schön, vor allem aber hat sein Dirigieren einen Atem, ein Gespür für die je eigenen Zeitverläufe in den verschiedenen musikalischen Schichten, ein unvergleichliches Timing. Die kleinen Brüche, welche die Partitur durch ihre doch etwas verwickelte Entstehungsgeschichte aufweist, kann er einen souverän vergessen machen. Santis «Manon» hat Italianità und gleichzeitig Abgeklärtheit. Wunderbar, wie er die Stimmen führt, ihnen Raum gibt und wie er das Orchester der Oper Zürich zu einer Höchstleistung motiviert. Nello Santi ist der heimliche Star der Zürcher Neuinszenierung von «Manon Lescaut», er machte den Premierenabend zum Ereignis.

Vier Stationen der tragischen Liebe einer ambivalenten Frauenfigur, Manon, und des für diese zu allem bereiten Cavaliere Renato Des Grieux werden in dieser Oper gezeigt, vier Fluchtsituationen. Manon, hin - und her gerissen zwischen ihrer Liebe zu Des Grieux und dem gierigen Verlangen nach dem Reichtum des alten Lebemannes Geronte, ist einem nicht immer sympathisch. Sylvie Valayre unterstreicht dies vor allem im zweiten Akt mit leicht geschärftem Timbre und einer eher etwas unterkühlten, beinahe monochromen Gestaltung ihrer Rolle. Man fragt sich manchmal, warum Des Grieux ihr verfallen ist. Doch dann, im dritten und vierten Akt, wird Valayre auch warm, gestaltet mit Farben und differenzierterem Ausdruck, und man glaubt ihr schliesslich die Entwicklung, die sie über die vier Stationen vom jungen, unerfahrenen Mädchen bis zur sterbenden, sich endlich ihrer Liebe bewusst werdenden Frau durchmacht. Man glaubt es ihr auch, weil ihr Geliebter, Des Grieux, in Marcello Giordani einen Interpreten hat, der sich mit Leib und Seele in seine Rolle hineingibt und sich mit ihr identifiziert. Von ihm kommen die grossen Emotionen, und er stattet sie mit ergreifenden tenoralen Farben aus.

Der alternde Geronte, der sich Manon gleichsam als Vorzeige-Kurtisane hält und sie mit seinem Reichtum und seiner Verehrung überhäuft, um sie sogleich dem Richter zu überantworten, als er sie beim Stelldichein mit Des Grieux erwischt, Geronte ist bei Carlos Chausson und seinem wunderbar kräftigen Bass bestens aufgehoben. Ist es ein Zufall, dass er etwas an Salvador Dalí erinnert? Dieser etwas absurd wirkende, geckenhafte Alte in seiner herausgeputzten Paradiesvogel-Welt? Der Spieler im Hintergrund, der zwischen Manipuliertwerden und Manipulieren schwankt und der zeitweise massiv von Manons Lebensumständen profitiert, ist ihr Bruder Lescaut, der von Cheyne Davidson in seiner ganzen etwas zwielichtigen Art ausgezeichnet verkörpert wird.

Diese erste Zürcher Neuinszenierung von «Manon Lescaut» seit mehr als einem Vierteljahrhundert stammt von Grischa Asagaroff (Regie) und Reinhard von der Thannen (Bühnenbild/ Kostüme). Sie placieren das Geschehen behutsam im frühen zwanzigsten Jahrhundert, geben der Bühne eine konstante Grundstruktur. Einige leicht surreale Elemente, einige unaufdringliche Zitate tauchen auf. Aber es geht Asagaroff nie darum, etwas in die Geschichte hineinzuprojizieren, das nicht oder höchstens als Subtext-Interpretation da ist. Er erzählt sie einfach, so gut und phantasievoll wie möglich. Und er sorgt dafür, dass die Sängerin und die Sänger bei ihren grossen vokalen Auftritten sich vorne auf der Bühne befinden und sich kaum mehr bewegen müssen. Dennoch gelingt es ihm, gerade bei solchen Momenten das Geschehen im Hintergrund mit dem Chor und den Statisten wirkungsvoll so zu beleben, dass nie Langeweile aufkommt.

Da hilft ihm die Bühne enorm. Denn von der Thannen hat hinten über der eigentlichen Bühne gleichsam einen zweiten Guckkasten geschaffen. Die Kutsche im ersten Akt steht da, beleuchtet wie ein Scherenschnitt. Wie auch der ganze erste Akt - er ist in einer Art Wartsaal mit Café angesiedelt - fast nur in mitunter grotesk eingesetztem Schwarz und Weiss gestaltet ist. Wie wirkungsvoll, wenn die Damen plötzlich ihre schwarzen Mäntel ausziehen und kräftige Farben auftauchen! Heftig ist, bei gleich bleibender Struktur des Bildes, der Farbkontrast im zweiten Akt: Regenbogenfarben dominieren, und im Guckkasten wird der Vortrag von Gerontes Madrigal durch den «Musico» (Judith Schmid) von einem seltsamen Ballett begleitet. Beklemmend dann das Licht, das im dritten Akt durch einen riesigen Ventilator auf der Hinterbühne hindurch auf die Gefängnisszene geworfen wird, und plötzlich mutiert der Ventilator zum Rad des bereitstehenden Dampfers im Hafen. Solche Abstraktionen und Transformationen beleben das optische Geschehen raffiniert. Eine Inszenierung also, die ihre Qualitäten hat, die aber vor allem auch hilft, zu hören, und das ist, denkt man an Santis Dirigieren, besonders wertvoll.