Manierismus in Schwarz-Weiss

Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (18.10.2004)

Manon Lescaut, 16.10.2004, Zürich

«Manon Lescaut» ringt im Zürcher Opernhaus um das grosse Gefühl.
Gänsehaut gab es bei der Premiere aber selten.

«Ich empfinde die kleinen Dinge, und nur sie liebe ich zu behandeln. So gefiel mir Manon, weil sie ein Mädchen von Herz war und nicht mehr.» Mit solchen Worten begründete Giacomo Puccini seine Wahl für eine ins Kleinbürgerliche versetzte Femme fatale, für jene Kurtisane, die Abbé Prevost 1731 in die Literaturwelt gesetzt hatte. Man hat aus seiner Neigung zu den kleinen Dingen, zu den kleinen Leuten schon versucht, Tendenzen zu psychologischem und sozialem Realismus zu erkennen. Was «Manon Lescaut» betrifft, den ersten anhaltenden Erfolg für den 35-jährigen Komponisten, wäre freilich nichts falscher als dies.

Alles andere als realistische Charaktere mit ihren ambivalenten und widersprüchlichen Aspekten hat seine Musik hier im Sinn. Vielmehr schleift sie alle Charakternuancen so lange ab, bis als Kern bloss das Gefühl an sich übrig bleibt, vorzugsweise der Liebes-, Abschieds- oder Todesschmerz. Wenn sich Singstimme und Orchester im Unisono vereinigen und zusammen mit den Herzen des Publikums dem einen, einzigen melodischen Moment folgen, dann ist jeweils die Kulmination erreicht. Dann gelangt Puccinis fiebriges Streben nach der puren Emotion an ihr Ziel, dann gibt es nichts mehr zu denken, zu relativieren oder zu differenzieren, dann hat sich die Musik von der Welt gelöst. Das Ergebnis ist schliesslich nicht die Darstellung von Menschen, sondern Manierismus. Zum Beispiel: Der junge Liebhaber Des Grieux hat seine Manon aus den Händen der Soldaten zu befreien, zückt einen Revolver, doch im nächsten Moment entscheidet er sich fürs Flehen um Mitleid. Aggressivität schlägt in Wehleidigkeit um, ein eigentlich aufschlussreicher psychologischer Vorgang. Doch Puccini zieht übergangs- und hemmungslos sofort sämtliche Tränenregister, die Folge ist mit der Tenorarie «No! Pazzo son» ein weiterer Höhepunkt der emotionalen Temperatur.

Elastische Melodik

Diesem Suchen nach den Höhepunkten dient Puccinis ganzes Repertoire an melodischen, farblichen und harmonischen Mitteln bis hin zum Tristan-Zitat, das so üppig ist, dass später Generationen von Filmkomponisten davon noch profitieren konnten. Nicht in jedem dieser Momente sprang bei der Premiere am Samstag der Funke, obwohl in Zürich Stimmen zur Verfügung stehen, die dem geforderten Kraftaufwand und der zweckenthobenen Emotionalität gewachsen sind. Marcello Giordani etwa: Sein geschmeidiger strahlender Klang blüht kraftvoll auf in Puccinis elastischer Melodik, und er verkörpert in nuce, was Puccini von ihm verlangt: einen Tenor. Sylvie Valayre als Manon hält mit. Auch sie stürzt sich mit viel vokaler Intensität in den Strudel der Gefühle, der sich nicht mehr um die psychischen Details einer zwischen Verliebtheit und Luxuslust hin und her gerissenen Kurtisane kümmern kann. Mit gewohnter Souveränität lenkt Dirigent Nello Santi Puccinis musikalische Luxuslimousine durch sämtliche agogischen Kurven und sorgt dafür, dass das erzählende Vorspiel zum dritten Akt zu einem weiteren Höhepunkt des Abends wird.

Schliesslich galt es aber auch, die Gefühle in Bilder und Kostüme einzukleiden. Regisseur Grischa Asagaroff und Ausstatter Reinhard von der Thannen haben sich fürs grosse Schwarze entschieden. Schwarz-weiss ist das Dekor in allen Akten, zu Beginn deuten einige Spektralfarben in Kostümen und Licht noch einen Rest von buntem Leben an. Historisch wird die Geschichte in Puccinis Zeit lokalisiert, einige symbolische Elemente sorgen für etwas Abstraktion (wie etwa die vielen Koffer, die als Hinweis auf künftige Fluchten und Reisen im ersten Bild herumstehen). Der Bühnenhintergrund wird für illustrierende Accessoires genutzt für eine Kutsche als Fluchtfahrzeug im ersten Akt; für ein allegorisches Ballett bei der musikalischen Unterhaltung im Hause Gerontes, Manons reichem Liebhaber, im zweiten Akt; für eine stilisierte Schiffsschraube, die auf die Deportation nach Amerika im dritten Akt hinweist.

So weit ein stimmiges innenarchitektonisches Design, in dem man sich ein wenig wie auf einer leicht hysterischen Kostümparty fühlt: Alle tun, als ob. Und unvermeidlich leistet sich die Party auch einen Schuss Tuntigkeit. Peter Keller hat einen scharwenzelnden Tanzlehrer zu verkörpern, Judith Schmid einen aufgetakelten Musiker, einige Studenten im ersten und einige Prostituierten im dritten Akt dürfen sich im Crossdress präsentieren. Auch Carlos Chausson muss mit gewohntem Schauspieltalent seinen reichen Geronte im Glanzglitzerkleid absolvieren, während Cheyne Davidson als Lescaut und Boguslaw Bidzinski als Edmondo trotz vokaler Kompetenz eher blass bleiben.

Der Schluss ist ein Problem. Bizarrerweise lässt das Libretto die Liebenden irgendwo in einer Wüste bei New Orleans stranden. In Zürich verdurstet Manon im Raum des ersten Akts, die Kutsche scheint noch einmal als Reminiszenz an bessere Zeiten auf, Des Grieux schwankt derweil händeringend über den Ort des Desasters. Eine Lösung, die der Schablonenhaftigkeit der Figuren auch nicht weiteres Leben einhauchen kann. Viel emotionales Drängen in polierter Hülle, wenig Gänsehaut. Das Publikum zeigte sich freundlich angetan.