Klischee mit der Musik wettgemacht

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (18.10.2004)

Manon Lescaut, 16.10.2004, Zürich

Das Opernhaus Zürich feierte am Samstag Premiere mit Giacomo Puccinis «Manon Lescaut»

Es sind zwei berüchtigte und gefürchtete Partien, der «Des Grieux» und die «Manon Lescaut» in der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini. Die Premiere der klischeehaft gestylten Inszenierung von Grischa Asagaroff ging am Samstag im Opernhaus Zürich über die Bühne.

Marcello Giordani, der Tenor mit sizilianischer Glut, sorgte an der Zürcher Premiere vom Samstag mit seinem beeindruckenden «Des Grieux»-Debüt für Furore. Auch Sylvie Valayre zeigte sich der monströsen Manon-Lescaut-Partie bravourös gewachsen. In der klischeehaft gestylten Inszenierung von Grischa Asagaroff sorgte Altmeister Nello Santi mit dem Opernorchester für echten Schmelz und ergreifende Leidenschaft.

Französisches Sujet mit italienischem Blickwinkel
Die «Manon Lescaut» ist, geht man auf die Erzählung von Abbé Prévost von 1731 zurück, ein französisches Sujet. Und nur einige Jahre vor Puccini hatte Jules Massenet mit seiner «Manon» in Frankreich grossen Erfolg gefeiert. Giacomo Puccini verstand es aber, die Frauengestalt von einem anderen, eben italienischen Blickwinkel aus zu betrachten. Er beschränkte sich auf die entscheidenden Schlüsselstellen der Geschichte und komponierte mit seinem dramaturgischen Sinn und seiner Instrumentierungskunst ein Gefühlsge- mälde, das ihm als Opernkomponisten den Durchbruch brachte.

Doch was wäre diese simple und sehr klischeehafte Frauengeschichte ohne diese Musik. Manon Lescaut wird auf der Fahrt ins Kloster vom Bruder begleitet. Auf einem Zwischenhalt trifft sie auf den Studenten Des Grieux, der sich sofort in sie verliebt. Und sie beschliessen auch von einer Sekunde auf die andere, gemeinsam nach Paris zu fliehen. Das nächste Bild zeigt Manon in Paris, wo sie von ihrem Bruder mit dem reichen alten Geronte verheiratet wurde. Ihr Liebhaber Des Grieux, mit dem sie ja geflohen ist, leidet schrecklich. In diesem zweiten Akt vollbringt Sylvie Valayre ihre grandiose Meisterleistung. Zuerst die puppenhafte Tanzstunde beim karikierten Tanzlehrer (Peter Keller), welcher Ehemann Geronte mit nobler Gunst zuschaut. Und gleich danach der heimliche Besuch von Des Grieux.

In dem Moment als er auftrat, wechselte Valayre ihre Ausdruckshaltung schlagartig: sie zeigte echte Gefühle, kam aus sich heraus, bat um Verzeihung und beschwörte die Liebe. Unerhört, was da musikalisch aufbrach, was diese Sängerin im Wechsel zwischen Dramatik und Lyrik an Authentizität und Kraft zulegte - einer der grossen Momente dieses Abends.

Klischee im Vordergrund

Man hatte sich bis dahin aber auch in der ausgesprochen ästhetizistischen und mit den gestylten Kostümen von Reinhard von der Thannen stereotyp überzeichneten Regie von Grischa Asagaroff nach etwas Echtem gesehnt. Der Auftritt der naiven und scheuen Manon, die ins Kloster fahren will, wird eins zu eins dargestellt. Nichts Hintergründiges lässt sich da erahnen, die ganze Situation unter den in ihren grauen Anzügen und schwarz-weiss getupften Krawatten «lackiert» wirkenden Studenten bedient nur das Klischee von der reinen, aber auch puppenhaften Naiven. Das dunkle erotische Timbre von Valayres Stimme entglitt hier zu einem schweren und unpassenden Vibrato.

Asagaroff ist ein solider Handwerker unter den Regisseuren, der die glitzernde Ästhetik der Opernwelt liebt und gerne ins Gestylte überhöht. Es fehlt jedoch an der Inspiration, die diese Geschichte neu erzählt, die aus dem Stoff etwas macht. Was hier auf der Bühne passiert, ist einfach, wie es ist. Es spielt sich alles im grauen Einheitsbühnenbild ab, im kalten Licht zweier grosser Neonlampen-Lüster. Im Hintergrund werden erhöht - wie auf einer Kinoleinwand - eine echte fahrende Kutsche und choreografische Einlagen gezeigt.

Und inmitten dieser unterkühlten Ästhetik Marcello Giordani als armer Student Des Grieux. Er ist natürlich, wie alle, im grauen Anzug elegant gekleidet, aber er glühte in dieser durchgestylten Welt aus allen heraus. Giordani sang sein Herz aus der Seele, kämpfte um seine Liebe, seine Gefühle, seine Hoffnung und gestaltete das alles mit lyrischer Intensität, Wärme und agiler Kraft. Manon, die von ihrem Gatten, den sie betrügt, verstossen und eingekerkert wurde, begleitet er in ihre Verbannung nach Übersee, nach Amerika. Und dort befreit er sie erneut, wird dabei zum Mörder und flieht mit ihr in die Wüste, wo sie erschöpft verdurstet und stirbt.

Hochkarätige Sängerbesetzung

Bei Asagaroff ist auch die Wüste grau, die Decke hängt tief, einer der Neonlüster liegt am Boden - man könnte in einem Kerker sein. Nicht aber im mörderisch gleissenden Sonnenlicht der endlosen Wüste. Kommt dazu, dass Manon im hochgeschlossenen weissen - und ebenso reinen - Seidenkleid den physischen und psychischen Erschöpfungstod stirbt - kein Anzeichen von Staub, von Schweiss, von Hitze, auch beim perfekt gebügelten Anzug von Des Grieux nicht. Doch wie die beiden Protagonisten diese Ausweglosigkeit sangen, das war an der Premiere von bezwingender Dramatik, von inniger Liebe und verzweifeltem Lebenskampf.

Die Inszenierung wird durchwegs von der hochkarätigen Sängerbesetzung und von der souveränen musikalischen Gestaltungskraft aus dem Orchestergraben getragen. Carlos Chausson gab einen noblen Geronte, der seine geschmeidige Stimme vielleicht etwas gar gepflegt führte. Als Bruder Lescaut gestaltete der Amerikaner Cheyne Davidson ein Rollendebüt von schlichter Grösse, dessen schattenhafte Präsenz auch stimmlich überzeugte.

Und auch der Edmondo erhielt im Rollendebüt von Boguslaw Bidzinski einen sehr lyrischen und sanften Ton. Nello Santi sorgte jedoch dafür, dass Puccinis verführerische Klänge auch eine strenge rhythmische Härte erfuhren. Und die fliessenden Übergänge gelangen dank des hoch präsenten Orchesters mit dramaturgischer Ballkraft und hintergründiger Sehnsucht.