Raffinement statt Sentiment

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (18.10.2004)

Manon Lescaut, 16.10.2004, Zürich

Neuinszenierung von Giacomo Puccinis «Manon Lescaut» am Opernhaus

Pointiert ästhetisch wirkt hier alles, vor allem aber Bühnenraum und Kostümzauber. Grischa Asagaroff inszeniert mit leichter Hand, als würde die Handlung sich ihre Spielanordnungen gleich selber vorgeben. Und Nello Santi sorgt im Orchestergraben für eine Puccini-Sternstunde.

Wohl würde er heute staunen, der Weltgeistliche Antoine François Prévost d'ExiIes. Staunen, dass sich kaum einer mehr durch die einst so trendsettigen sieben Bände seiner «Mémoires et aventures d'un homme de qualité» lesend hindurchquält - auch nicht durch den siebten Band, der den Roman «Les Amours du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut» enthält, einst ein entscheidender Wegbereiter der französischen literarischen Empfindsamkeit und als solcher eine perfekte Bilderbuchgeschichte.

Das Bild - genauer gesagt: das Bild, als es endlich laufen gelernt hatte - nahm sich der Manon-Geschichte denn auch erfolgreich an. Und darüber würde Prévost noch mehr staunen: wie im Jahr 1949 der Filmregisseur Henri-Georges Clouzot die blonde Cécile Aubry im Film «Manon» in die ferne, trockene Wüste geschickt hatte, wo sie in den Armen ihres Liebhabers verdurstend ihre schöne Seele aushauchte (und dafür mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde). 1968 doppelte der Filmregisseur Jean Aurel mit seinem. Streifen «Manon 70» nach - diesmal mit der unvergesslichen Cathérine Deneuve.

Reine Leidenschaft

In der deutschsprachigen Version übrigens hiess dieser Film «Hemmungslose Manon», was uns der Sache, respektive der unverwüstlichen Brisanz dieser Story, entschieden näher bringt. Denn auch die Opernkomponisten liessen sich wiederholt von ihr anstecken. Zuerst Daniel François Esprit Auber mit seiner 1856 uraufgeführten «Manon», 1884 dann Jules Massenet, ebenfalls mit einer «Manon», und 1893 schliesslich Giacomo Puccini mit seiner in Turin uraufgeführten «Manon Lescaut». Die Gefahr einer lähmenden Konkurrenz wusste Puccini indes geschickt zu umgehen: «Massenet empfindet als Franzose, mit Puder und Menuetten. Ich empfinde als Italiener, mit einer tiefen Verzweiflung.»

Damit ist ein wichtiges Stichwort auch für die Neuinszenierung am Opernhaus gegeben. Mit dem einheitlichen Grundraum, den Reinhard von der Thannen für sein Bühnenbild konzipiert hat, löst er das aktuelle Bühnengeschehen von seinen örtlichen, seinen historischen Bedingtheiten los und verlegt es in einen symbolischen Raum, wo reine Leidenschaften den Ton (oder die Koordinaten) angeben.

Im ersten Akt wähnt man sich in die Wartehalle eines Bahnhofs versetzt; im zweiten ist es ein Pariser Salon in klinischem Design, im dritten lösen sich gar die Grenzen zwischen Aussen- und Innenraum auf, und im vierten Akt, ein hügeliges Gelände an der Grenze zu New Orleans (das in Wirklichkeit eh nicht existiert), scheinen sich alle räumlichen Bedingtheiten aufzulösen. Entgrenzung heisst hier das Stichwort, und in der Tat geht es um die Auflösung menschlichen Daseins, um den Tod.

Das alles wird ebenso schlüssig wie unaufdringlich ins Bild gebracht und mit wenigen Requisiten bedeutungsvoll belebt. Mit schwarzen Koffern etwa, die in jedem Bühnenbild da stehen und auf die Unbehaustheit jener Menschen verweisen, die ausschliesslich ihrer Leidenschaft leben: Manon und Des Grieux, Aussenseiter in einer selbstherrlichen Gesellschaft, die vordergründig auf das Ideal einer enthaltsamen Moral setzt (und hintergründig also auf Doppelmoral). Gleichsam eine «kostümierte» Gesellschaft also, und Reinhard von der Thannen lässt mit seinen kunstvoll überhöhten Kostümen keinen Zweifel daran, dass es Kleider sind, welche Leute machen.

Triumph für Nello Santi

Kleider aus der Jahrhundertwende, der vorletzten, sowie aus den zwanziger Jahren: Das Spiel findet zur Entstehungszeit der Oper statt, von Grischa Asagaroff mit sicherer Hand zu lebendiger Bewegtheit gebracht. Da darf der Chor in lauter Ausgelassenheit schon mal schunkeln. Auch Klischees werden bedient: Der Friseur agiert so, wie man sich in der Provinz eine exaltierte Schwuchtel vorstellen
mag - provinzielles Theater dann. Dasselbe wiederholt sich beim Auftritt des Tanzlehrers im zweiten Akt, sichtlich zum schmunzelnden Vergnügen des Publikums. Dass darob die beklemmende Atmosphäre dieses Aktes, das Ausgeliefertsein Manons an einen von Geld für Liebe diktierten Lebenswandel, ihre Abgründigkeit verliert, muss man in Kauf nehmen.

Musikalisch gerät die Aufführung zu einem grossen Triumph für den Dirigenten Nello Santi: seit seinem ersten Dirigat 1958 am Opernhaus die dritte Neuinszenierung von Puccinis «Manon Lescaut», die er betreut. Bedächtiger sind seine Tempi seither geworden, das aber mit Bedacht: Anstelle von Sentiment waltet Raffinement. Unter seiner kundigen Hand verleihen die kraftvollen, aber nie blendend grellen Klangfarben der Musik Puccinis Glanz und Poesie. Mühelos gelingt es ihm, die musikdramatische Grossarchitektur des Werks im Blick zu behalten und gleichzeitig sein Augenmerk auf das mit Sorgfalt und purer Klangschönheit ausformulierte Detail zu richten. Der Chor des Opernhauses ist stimmlich bei bester Laune, und das Orchester der Oper Zürich arbeitet mit einer derart impulsiven Hingabe an den zuweilen geradezu impressionistischen Stimmungsvaleurs, dass die Musik einen unwiderstehlichen Sog entwickelt.

Dieser verstärkt sich noch, wenn Marcello Giordani singt: sein erster Des Grieux überhaupt. Bewundernswert der stimmliche Glanz bis hinauf in die exponierten Spitzentöne, bewundernswert auch die ganz dem Fluss der Sprache nachempfundene Artikulation, welche seinem Gesang Leben und Farbigkeit verleiht. Genau das vermisst man bei Sylvie Valayre: Ihre Manon klingt, vor allem zu Beginn der Oper, stellenweise mulmig, und der Glanz ihres Timbres hat hörbar Kratzer abbekommen, was sich vor allem im Pianobereich bemerkbar macht. Umgekehrt gelingt es ihr flamos, die Entwicklung der Manon vom behüteten, ungelenken Mädchen zu einer von purer Leidenschaft getriebenen Frau darstellerisch ins Spiel zu bringen.

Die mittleren und kleineren Rolle sind allesamt stimmig besetzt: Carlo Chausson als geil-gieriger Geronte, Cheyne Davidson als Manons Bruder, hin und her gerissen zwischen dem eigenen Schicksal und demjenigen seiner Schwester. Judith Schmid singt den Musiker mit madrigalesker Eleganz (und bewegt sich auch so); Boguslaw Bidzinski verleiht dem Edmondo schwärmerische Züge. Und Peter Keller als Tanzlehrer mimt - wie schon angedeutet - mit beredter Beinarbeit einen auf-(oder ab-)getakelten Ballerino, der vermutlich nie bessere Tage gesehen hat.