Energisch am Stück vorbeigesungen

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (28.09.2004)

Stiffelio, 26.09.2004, Zürich

Rarität: Giuseppe Verdis «Stiffelio» zum ersten Mal am Opernhaus Zürich

Das Libretto sei schlecht und szenisch nur schwer umsetzbar; die Musik scheint blass und ohne Höhepunkte zu sein. So lauten die Vorurteile über Verdis «Stiffelio». Am Opernhaus Zürich geschieht nichts, um sie zu widerlegen.

Schön warm und sehr gemütlich war es am Sonntagabend im Opernhaus Zürich: Es gab viel Champagner, leckere Brötchen, schöne Kleider, die berühmten Sänger sangen laut und folglich wurde zum Schluss heftig «Bravo» geschrien. Auf dem Programm stand nichts weniger als eine kleine Sensation: Eine 1850 in Triest uraufgeführte Oper von Giuseppe Verdi, die noch nie am Opernhaus gezeigt worden war - das will bei der Verdi-Liebe beziehungsweise Verdi-Sucht des österreichischen Intendanten etwas heissen.

Auch wer Verdis «Stiffelio» noch nie gehört hat, dem wird die Musik nicht völlig neue Perspektiven vor Ohren geführt haben. Verdi schien nach «Luisa Miller» (1849) nichts Neues hervorbringen zu wollen oder zu können. Erst mit der dem «Stiffelio» folgenden Trias «Rigoletto», «Trovatore» und «Traviata» stieg er in den Olymp auf.

Protestantische Handlung

Liebevoll wird «Stiffelio» seit zwei Jahrzehnten immer wieder mal aufgeführt. Dann wird jeweils gezeigt, wie ein evangelischer Prediger von seiner Frau betrogen wird. Zur Überraschung aller Beteiligten ruft er in einem Gottesdienst zur Vergebung auf. Trotz Szenen dramatischer Ehr- und Liebesbezeugungen wie Eifer- und Rachsucht zeigt die protestantische Handlung meist nur wenig Wirkung. Es sei denn, ein Regisseur setzt das Ehebruchdrama schlüssig in Szene oder ein Dirigent setzt diese trotzige Musik mit ihren lyrischen Lichtblicken packend um. Beides ist in Zürich nicht der Fall.

Regisseur Cesare Lievi begnügt sich damit, Stimmungen zu zeigen: Düster ist das Licht (Jürgen Hoffmann), mächtig einfach sind die Bühnenbauten (Csaba Antal), lapidar symbolisch die Kostüme (Marina Luxardo).

Schön und gut, nur lässt sich halt eine Opernhandlung an der Rampe vorne nicht erzählen. Dank der Bühnenpräsenz von José Cura und Leo Nucci erhalten wenigstens zwei Protagonisten Charakterzüge. Aber Reinaldo Macias als Verführer und Emily Magee als Verführte stehen hilflos auf der Bühne. Und obwohl die vier Protagonisten Verdis Töne treffen, gerät die Aufführung musikalisch in eine Sackgasse.

Schuld ist der italienische Dirigent Stefano Ranzani, der das zweieinhalbstündige Werk grobschlächtig dirigiert: Wenns süss schwärmerisch klingen könnte, tönts bei ihm dick und aufgesetzt; wenn in Fortepassagen die Farbigkeit des Klangs ausgeschöpft werden könnte, herrscht bei Ranzani tumbe Kraftmeierei. Selbst Holzbläsersoli wirken nur mehr einfältig. Aber eben: Da war auch ein Leo Nucci mit unnachahmlich sprechendem Gesang und Kraftreserven aus dem letzten Jahrhundert zu hören. Und Emily Magee sang zwar mit etwas (zu) scharfer Sopranstimme, aber dafür mit einem beglückenden Detailreichtum und grosser Persönlichkeit.

Verhaltensorigineller Tenor

José Curas Persönlichkeit ist so gross, dass sie auch verhaltensoriginell genannt werden kann. Aber der fotografierende wie dirigierende Tenor hält sich und seine manchmal überschäumenden Kräfte im Zaum und singt durchaus passabel. Seine Stimme hat unterdessen die Eigenschaften einer alten Jeanshose: Manchmal wirkt so etwas cool, bei genauerem Hinsehen merkt man aber, dass an den exponierten Stellen geflickt wurde und dass weite Teile farblos geworden sind.
Trotz allem war zur ersten Zürcher Premiere der Saison die Stimmung allenthalben gut, über die paar Buhs für den Regisseur konnte der Intendant gelassen hinweghören. Die Chance, etwas Sinnvolles für das Werk getan zu haben, wurde verspielt.