Skandalstück von einst

Andreas Klaeui, Basler Zeitung (28.09.2004)

Stiffelio, 26.09.2004, Zürich

Rarität von Verdi: «Stiffelio» am Zürcher Opernhaus

Ein Jahr vor «Rigoletto» komponiert, ist Verdis «Stiffelio» eine kaum bekannte Grösse in der Opernwelt. Verdi wandte sich damit erstmals einem zeitgenössischen Sujet zu.

So etwas musste ja Kopfschütteln auslösen. Ein verheirateter Priester, der seine Frau ertappt, als sie ihn mit einem jungen Mann betrügt - der Stoff von «Stiffelio» musste einem katholischen Publikum um 1850 derart sonderbar vorkommen, dass die Oper bei den Zeitgenossen durchfiel. Gut möglich, dass Verdi, der selber in einer Beziehung lebte, welche von der Mutter Kirche nicht gesegnet war, ein persönliches Interesse mit dieser Geschichte verband, in welcher der Titelheld und Priester Stiffelio seiner Gattin Lina am Schluss vergibt - mit Verweis auf die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin.

Jedenfalls lag ihm so viel an seinem «Stiffelio», dass er nach dem Misserfolg der Oper beschloss, ein neues Werk auf der Grundlage der «Stiffelio»-Partitur zu komponieren: «Aroldo». «Stiffelio» ist bis heute eine Rarität geblieben. Auch das Zürcher Opernhaus führt das Stück zum ersten Mal auf. Es ist natürlich die Musik, in der die Qualitäten dieses Werks liegen. «Stiffelio» entstand fast gleichzeitig mit «Rigoletto», unmittelbar danach schrieb Verdi «La traviata» und «Il trovatore».

Hinreissende Musik. In «Stiffelio» gibt es hinreissende Musik. Überraschende musikalische Einfälle, zielsichere Effekte, weit ausschwingende Melodiebögen und harmonisch betörende Ensembles, das ist Verdi vom Besten. Hinzu kommt das exotische Ambiente einer protestantischen Sekte - Anlass zu mancherlei romantischen Gebets- und schauerlichen Friedhofsszenen und zum grossen Theatercoup am Schluss, als Stiffelio von der Kanzel herab eine gesungene Predigt hält.

Artige Umsetzung. Das ist eine Entdeckung wert. Nur hätte man sich gewünscht, dass diese Entdeckung einen inspirierteren Sachwalter gefunden hätte als den Dirigenten Stefano Ranzani, der mit dem Opernhaus-Orchester einen zwar soliden Verdi hinlegte, aber nicht mehr. Ein Kapellmeister-Verdi sozusagen: Jeder Ton war da, aber bei jedem Ton konnte man sich vorstellen, wie er noch hätte klingen können, was man aus dieser Partitur auch noch hätte herausholen können.

Regisseur Cesare Lievi zeigt Stiffelio, den Mann, der an seiner Heiligenlegende bastelt, beim Modellbau eines übermenschengrossen Tempels. Darüber hinaus beschränkt sich Lievi darauf, die Sänger schön an die Rampe zu führen und dann auch mal an einen Tisch zu setzen. José Cura legt als Stiffelio dramatische Verve an den Tag, ist aber stimmlich so überanstrengt, dass fast nur noch gepresstes Näseln zu hören ist. Emily Magee als Lina führt ihren lyrischen Sopran makellos, doch mangelt es ihr an «Italianità». Echte italienische Klangkultur gabs einzig bei Leo Nucci: ein solide polierter Bariton. Das war die nur gerade ordentliche Aufführung eines Werks, das mehr verdient hätte.