Träumen nach Regieanweisung

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Opernhaus Zürich: Nach 24 Jahren wird endlich wieder Ferruccio Busonis teilweise in Zürich komponierter «Doktor Faust» gespielt.

Es genügt, eine Fotografie von Ferruccio Busoni (1866-1924) anzuschauen, damit man weiss, warum es die Oper «Doktor Faust» gibt: Da ist ein deutscher Italiener zu sehen, dem das Genialische auf die Stirne geschrieben ist: Er verehrt Wagner und wehrt sich gegen ihn, er kniet vor Mozart und Bach, er spielt Klavier wie ein russischer Tastenlöwe und er weiss theoretisch alles über Musik. Dieser Künstler will sein Opus magnum schreiben, naturgemäss eine Oper mit einem kühnen Stoff: Don Juan, da Vinci?

Es wird ein «Faust» daraus. Der Stoff, den J. W. v. Goethe ins Unerreichbare gedichtet hat. Deswegen geht Busoni weiter zurück, lehnt sich in seinem selbst verfassten Libretto an Karl Simrocks Puppenspiel-Fassung an. Ab 1916 schreibt er teilweise im Zürcher Exil eine kühne Musik, die in seinem Kopf wahrscheinlich noch viel kühner getönt hat. 1924 stirbt er und sein Schüler Philipp Jarnach muss die Oper vollenden, die nie ihr grosses Publikum findet. Wird sie heute gespielt, dann unter dem Schlagwort «Spielplan-Rarität».

Das ist auch am Opernhaus Zürich so. Die leeren Plätze selbst an der Premiere zeigen deutlich, dass man hier das gefällige 19. Jahrhundert lieber hat als grüblerische Tondichter und ihre genialischen Werke des 20. Jahrhunderts. Der Intendant hat sein Publikum in den letzten 15 Jahren in diese Richtung gelenkt. Aber er bleibt er auch bei «Doktor Faust» bei seinen guten Tugenden und stellt mit Bilderbuch-Faust Thomas Hampson und Meis-er-Mephistopheles Gregory Kunde ein Top-Sängerduo zusammen.

Diese beiden sehr unterschiedlichen Sängerdarsteller überzeugen vor allem im zweiten Teil. Obwohl Hampson grossen Wert auf sprachliche Details legt, ist seine Verständlichkeit durchschnittlich. Ja mit dem Parlando-Ton kommt der Bariton zu Beginn weniger gut zurecht als Tenor Gregory Kunde. Hampson fehlt es im Gegensatz zu Kunde am getragenen Ton, an Durchschlagskraft. Kunde - der an den grossen Häusern jene Rollen singt, die «niemand» kann - hat zwar eine charakterlose Stimme, aber beeindruckende technische Fähigkeiten: Mühelos bewältigt er die beinahe melodielose Partie. An den zwei Protagonisten, die von beeindruckenden Nebendarstellern wie Günther Groissböck, Reinaldo Macias oder Sandra Trattnigg begleitet werden, liegt es nicht, dass der Abend etwas konturlos erscheint. Denn Dirigat und Regie überzeugen nicht durchs Band.

Dirigent Philippe Jordan - Sohn des letzte Woche verstorbenen Armin Jordan - gelingt es nicht, die Partitur so zu durchleuchten, wie das Kent Nagano 1999 in Salzburg und in der in Lyon eingespielten Aufnahme beispielhaft zeigte. Das Vorspiel zerfällt, weil es weder das Orchester schafft, präzise zu spielen, noch der Dirigent, die queren Klangschichten zu einer einzigen zu verbinden. In der Folge ist mehr Lautstärke als klärende Gestalt zu bemerken, was den Sängern ihre Aufgabe erschwert. Erst im zweiten, lyrischeren Teil findet Jordan seinen hymnisch, überaus feinsinnig gestalteten schwelgerischen Ton; die Mischung von Orchesterklang und Stimmen ist nun geradezu ideal.

Busonis «Doktor Faust» ist eine linear erzählte «Faust»-Geschichte, kann aber auch als träumerische Fantasie einer faustischen Figur gelesen werden. Regisseur Klaus Michael Grüber will den Traum. Dem ersten, den Erwartungen entsprechenden Bild - einem (bereits toten?) Faust am Studiertisch - folgen famose Arrangements. Es sind wahre Tableaux vivantes, die offenbar Fausts Traumwelt entstammen - allerdings einem sehr statischen, einfachen, fast schon linearen Traum. In dieser Bezeichnung liegt naturgemäss bereits ein Widerspruch. Ein Kind mag sich einen Fürstenhof so erträumen, wie ihn Grüber und Bühnenbildner Eduardo Arroyo uns zeigen. Aber ein abgelebter Faust?

Faust träumt brav nach den kursiv gedruckten Regieanweisungen seines Schöpfers Busoni. Spielerische oder fantastische theatrale Mittel spart Nachschöpfer Grüber aus: Eine Wirklichkeit soll offenbar abgebildet werden. Und so rasseln die Säbel, bezaubern opulente Ballbilder, hüpfen Teufelchen über die Bühne und Helena hängt nackt am Kreuz. Alles hübsch vom Bilderbuch-Mephistopheles mit schwarzem Umhang und roten Handschuhen arrangiert.

Nach 200 Minuten fordert der Teufel sein Recht. Faust tritt ab. Ein nackter Jüngling mit einem Zweig in der Hand wandelt anstatt seiner über die Bühne. Ein weiteres Bild aus Fausts Traum? Doch der ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeträumt.