Krise einer charismatischen Persönlichkeit

Herbert Büttiker, Der Landbote (28.09.2004)

Stiffelio, 26.09.2004, Zürich

Verdi selber hat «Stiffelio» nicht zu den Werken gezählt, die getrost vergessen werden dürften wie andere aus seiner Feder. Warum er ihm ein besseres Schicksal wünschte, macht das Opernhaus deutlich.

Verdis zentrale, um 1850 entstandene Trias mit «Rigoletto», «La Traviata» und «Il Trovatore» ist eigentlich eine Tetrade: «Stiffelio», parallel zu «Rigoletto» für Triest komponiert, hatte zwar nur ein kurzes Bühnenleben, und auch die veränderte Form, in der Verdi die Oper sechs Jahre später in Rimini als «Aroldo» präsentierte, brachte dem Werk keinen dauernden Erfolg. Die Wiederaufführung der ursprünglichen Fassung, die Quellenfunde in den sechziger Jahren möglich machten (Erstaufführung 1968 in Parma), gilt seither aber allenthalben als Sensation. Lange hat es gedauert, bis die Oper nun auch nach Zürich gelangt ist, eine Verdi-Sensation ist die Premiere auch hier: Das musikalische Niveau der Aufführung unter der Leitung von Stefano Ranzanz rückt die Qualitäten der lange vernachlässigten Partitur in ein helles Licht, mit Emily Magee, José Cura und Leo Nucci erhalten die Hauptpartien ein starkes Profil, und die Inszenierung (Cesare Lievi, Csaba Antal, Marina Luxardo) besticht durch eine packende Personenführung und eine stimmungsstarke Bühne, die die konzentrierte Dramaturgie des Stücks unterstreicht. Weniger als einige Detailfragen und ein verunglückter Szenenwechsel gibt allerdings die grundsätzliche Deutung der Handlung und vor allem des Charakters der Titelfigur Anlass zur Diskussion.

«Der werfe den ersten Stein»

Die seltsame Karriere des «Stiffelio» hat mit der Provokation eines zeitgenössischen Stoffes zu tun, der sperrig war nicht nur für die damalige Zensur, sondern auch für das Publikum. Erzählt wird (nach einem 1849 uraufgeführten Stück der französischen Autoren Emile Souvestre und Eugène Bourgeois) die Geschichte eines protestantischen Sektenpfarrers im Salzburgischen. Nach langer Abwesenheit zurück, ist er mit dem Ehebruch seiner Frau Lina konfrontiert. Deren Vater, Graf und Oberst Stankar, der die Familienehre beschmutzt sieht und zuletzt den Verführer (Reinaldo Macias) im Duell tötet, möchte, dass die Tochter das Geschehene verschweigt. Entsprechend geht Stiffelio einen langen Weg bis zur vollen Gewissheit.

Es ist ein Weg voller dramatischer Spannung, auf dem Stiffelio im Widerspruch zwischen dem Sturm seiner Gefühle und der Milde seiner christlichen Haltung zu zerbrechen droht. Am Ende des zweiten Aktes sinkt er ohnmächtig am Kreuz nieder. Der dritte Akt bringt eine doppelte Kulmination: In einer grossartig komponierten Duettszene muss Lina in die Scheidung einwilligen. Erst danach hat sie vor ihrem Mann als Priester die Gelegenheit zu gestehen, dass sie auf hinterhältige Art verführt worden ist und dass sie nach wie vor nur ihn liebt. Die Schlussszene spielt in der Kirche. Für seine Predigt schlägt Stiffelio zufällig die Stelle auf, die von Jesus und der Ehebrecherin handelt: In einem kurzen musikalischen Aufschwung wird das Wort der Bibel zu seinem eigenen, und Lina, die sich vor ihm niedergeworfen hat, steht auf und ruft mit erhobenen Händen Gott an – so die letzte Szenenanmerkung.

Versöhnlich oder zynisch?

Nicht so die Zürcher Inszenierung. Sie mündet in eine Pose starrer Hierarchie – Lina ausgestreckt am Boden, Stiffelio auf der hohen Kanzel. Die Szene ist so zu lesen als «Inszenierung», mit der Stiffelio die Kontrolle über die Gemeinde, die er mit seinem allzu menschlichen Verhalten gefährdet hat, wieder übernimmt. Statt Versöhnung – vor allem Stiffelios mit sich selbst! – also Dominanz, statt der Theologie der Gnade (Max Ulrich Balsiger im Programmheft) die grosse Geste zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit (José Cura in der Opernhauszeitschrift): ein frostiges Finale. Ist es auch Verdi?

Einiges deutet darauf hin, dass die Inszenierung zwar richtige Schlüsse zieht, aber aus falschen Voraussetzungen. Stiffelio ist gerade nicht ein Mann, der Gesetz, Ordnung und Moral rigid vertritt. Das zeigt die erste Szene, wo er statt Gerüchten über einen Skandal nachzugehen die Indizien vernichtet. Nicht unähnlich dem «Maskenball»-Riccardo schlägt er einen leichten Ton an. Konzilianz ist sein Naturell, Versöhnlichkeit auch seine Botschaft als Priester, und wie sein Charisma auf seine Umgebung wirkt, lässt das «Gioia e Pace ...» des Festchores hören. Was folgt, ist die Zerstörung eines integren Charakters durch die Leidenschaft: Otellos Schicksal, ein Zwiespalt nicht zwischen Amt und Person, sondern im Menschlichen selbst mit seinen hellen und dunklen Seiten.

Die Helle bleibt in der Zürcher Aufführung ausgespart. Elemente einer kühlen und monumentalen Sakralarchitektur, die alle Lebensfreundlichkeit ausschliessen, beherrschen die Schauplätze in dunklen Grau- und Brauntönen. Schwarz dominiert auch die hochgeschlossenen Kostüme. Zum Festgesang gruppiert sich die farblose Menge wie im Käfig auf dem Baugerüst: Der Kirchenbau steht auch da ganz im Zentrum. So zielt die ganze Ausstattung ästhetisch raffiniert, expressiv und treffsicher auf das Porträt einer alle Lebendigkeit unterdrückenden religiösen Gemeinschaft.

Eine finstere Figur

Ihren Protagonisten, den Sektenpriester Stiffelio, zeichnet José Cura in diesem Kontext ungemein plastisch: mit grossartiger Körperbeherrschung bis in die Fingerspitzen und im musikalischen Charakter differenziert. Sein baritonal gewichtiger, in den Attacken aber flexibler, in den weiten Gesangsbögen etwas nasaler und in Spitzentönen auch rauer Tenor kommt den darstellerischen Intentionen entgegen: da die steife Kontrolle des Auftretens und der Gefühle, da die durchbrechende Leidenschaft, dazwischen wenig, was im tenoralen Schmelz Güte, idealen Schwung bedeuten könnte – eine finstere Figur im Ganzen, die mehr erschreckt als berührt und zuletzt wenig Anlass dazu gibt, sich über das zynische Finale zu wundern, das Verdi vermutlich anders gemeint hat.

Die Rolle des moralisch-religiösen Eiferers hat im Stück eigentlich ein anderer. Es ist der alte Jorg, Aufpasser und Wächter über Stiffelios Amtspflichten, eine kleine Basspartie, mit der Günther Goissböck in dieser Inszenierung logischerweise ganz im Schatten seines Schützlings bleibt. Stankar, Linas Vater, hingegen ist eine der grossen Vaterfiguren Verdis, die mit Glanz und Gloria im Kampf um die Familienehre Unheil anrichten, aber musikalisch alle Trümpfe in der Hand haben: Leo Nucci hat in allen Bereichen die Möglichkeiten, sie mit sattem Griff auszuspielen: autoritär, sentimental, hochfahrend und draufgängerisch bis zur Erschöpfung. Dass Emily Magee sich gerade in den grossen Duetten mit ihm und Stiffelio als ausdrucksstarke und dramatisch packende Partnerin durchsetzte, zeugte von souveräner sängerischer Präsenz. Eine Frage des Tempos war wohl die Kurzatmigkeit der ersten Preghiera, ihre Arie im zweiten Akt jedenfalls, ein auch von der ätherischen Begleitung der geteilten Streicher her wunderbares Stück Musik, war einer der grossen Momente des Abends.

Brillanz und Innigkeit

Überhaupt: Wie dicht und kontrastreich sind diese zwei Stunden Musik zwischen kammermusikalischer Intimität und hämmernden Cabalettas, vielschichtigen Ensembleszenen und berührenden Kantilenen. Die Sinfonia mag irritieren, weil sie ein Gesangsthema bringt, das nicht in «Stiffelio», sondernerst in «Aroldo» vorkommt («Sotto il sol di Siria ardente»). Ihre Allegro-Brillanz stellte die Inszenierung hingegen mehr in Frage als nötig. Stefan Ranzani allerdings liess sich nicht beirren und stellte ihre Effekte so schmissig heraus, wie es nur eben ging. Mit manchen Tempi mochte er an obere Grenzen stossen, da und dort war das Zusammenspiel von Orchester und Bühne auch gefährdet. Aber immer wieder war schwungvolle Dramatik auf den Punkt gebracht, innige Passagen erhielten Raum, und der Chor des Opernhauses konnte sich (die A-cappella-Preghiera der Finalszene!) hinreissend entfalten: Vieles an diesem Abend war Verdi pur.