Innere Zerrissenheit

Stefan Degen, Neue Luzerner Zeitung (28.09.2004)

Stiffelio, 26.09.2004, Zürich

Das Opernhaus Zürich zeigt erstmals Giuseppe Verdis «Stiffelio». In der Titelrolle überzeugt José Cura als leidenschaftlicher Priester.

«Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie». Dieses Zitat aus dem Johannes-Evangelium steht über dem ganzen Werk. «Stiffelio» (1850 uraufgeführt) erzählt die Geschichte des gleichnamigen protestantischen Priesters, dessen Frau Ehebruch begeht. Am Schluss verzeiht ihr Stiffelio grossmütig. Vorlage für das Libretto war das 1849 erschienene französische Drama «Le Pasteur, ou l'Évangile et le Foyer» von Émile Souvestre und Eugène Bourgeois.

Giuseppe Verdi interessierte an diesem Stoff das Psychogramm der Titelfigur zwischen kirchlichem Amt und privatem Eheschicksal. Verdi schrieb das Werk 1850, als er sich bereits intensiv mit dem «Rigoletto» beschäftigte. Dennoch fand er für «Stiffelio» unkonventionelle und innovative Kompositionsmittel. Das Bühnenbild (Csaba Antal) mit einer im Bau befindlichen Kirche unterstreicht die verhalten-düstere Atmosphäre. Regisseur Cesare Lievi arrangierte konventionell-gefällige Tableaus; die seelischen Konflikte der Figuren werden indes kaum glaubhaft herausgearbeitet.

Im Zentrum der Oper steht Stiffelio, in Zürich herausragend gesungen von José Cura. Der 38-jährige argentinische Tenor verkörpert die innere Zerrissenheit der Figur mit starker Bühnenpräsenz. Seinem dunkel, fast baritonal timbrierten Tenor gewinnt er überraschend samtene Töne ab. In den starken Gefühlsausbrüchen weist Curas Stiffelio auf Otello voraus. Als seine Frau Lina hinterlässt Emily Magee einen zwiespältigen Eindruck. Ihr Sopran klang an der Premiere seltsam matt und scharf in den Höhen, und sie kämpfte mit Intonationsproblemen. Einmal mehr in blendender Verfassung zeigte sich Leo Nucci als Linas Vater Stankar. Der Baritonveteran demonstrierte Verdi-Gesang in Reinkultur. Eine zu Recht umjubelte Leistung. Das Orchester der Oper Zürich unter Stefano Ranzani gefiel durch packenden Drive und schöne Soli.