Düsterkeit überall

Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (28.09.2004)

Stiffelio, 26.09.2004, Zürich

Verdis «Stiffelio» im Opernhaus Zürich

Erneut brachte das Opernhaus Zürich eine italienische Opernrarität auf die Bühne: Giuseppe Verdis «Stiffelio» (1850). Erstmals hatte Verdi hier einen zeitgenössischen, bürgerlichen Stoff gewählt, was das Werk zu einem wichtigen Vorläufer der «Traviata» macht. «Stiffelio» ist ein im Grunde waghalsiges Stück, denn es geht um Ehebruch, Ehre, Vergeltung und göttliche Vergebung, und das alles in den kirchlichen Kreisen einer (frei erfundenen) Sekte. Hauptpersonen sind der Sektengründer Stiffelio, seine Frau Lina, ihr Vater Graf Stankar, Linas Verführer Raffaele und Stiffelios Alter Ego, der Priester Jorg. Am Ende hat Stankar Raffaele umgebracht und Stiffelio die Scheidung von seiner ihn immer noch liebenden Frau vollzogen, doch die von Stiffelio im Gottesdienst zufällig aufgeschlagene Bibelstelle mit Jesus, der der Ehebrecherin verzeiht, bringt die versöhnliche Kehrtwendung. Die Thematik enthielt zu ihrer Entstehungszeit einen solchen Zündstoff, dass die Zensur einschritt.

Die Oper, verstümmelt, blieb erfolglos. Ob sie in der Originalfassung damals mehr Erfolg gehabt hätte? Wir treffen auf ein Stück Musiktheater mit durchaus innovativen Zügen, neuen Inhalten und einer Musik, die streckenweise auf den späteren Verdi vorausweist, aber auch ihre arg routiniert klingenden Stellen hat. Die Dramaturgie ist nicht optimal gelöst; der Verführer etwa bleibt seltsam blass. Man will nicht glauben, dass Lina diesem Gecken ihren Ring geschenkt hat. Da müsste doch musikalisch, inhaltlich spürbar werden, dass einmal zwischen den beiden Funken sprangen.

Die dunkle Atmosphäre des Stücks wird durch die Zürcher Inszenierung von Cesare Lievi im Bühnenbild von Csaba Antal unterstrichen. Gefangen zwischen den Säulen einer im Bau befindlichen abstrahierten Kirche agieren die Personen. Ihre Kostüme (Marina Luxardo) legen das Geschehen in die Entstehungszeit des Werkes; eine Betonmischmaschine im Hintergrund, ein Baggerarm, der ins Bild reicht, sind Versuche, das Geschehen auch etwas auf unsere Gegenwart zu beziehen. Grautöne, Brauntöne, schwarz und das Rot des Blutes herrschen vor. Düsterkeit also überall, ein gekonnter Aufbau, aber keine wirkliche Prägnanz. Das Beste ist die unaufdringliche (und dringend notwendige), raffiniert mit ständigen Farbveränderungen spielende Lichtgestaltung von Jürgen Hoffmann. Kunstgerecht und fachmännisch führt Lievi in diesem Raum die Figuren. Es ergeben sich eindringliche Momente, die dann aber plötzlich wieder in Klischees kippen können. Reizbilder versuchen, uns direkt zu packen - aber ach, auf etwas gar abgestandene Weise. So nimmt Stiffelio die Klinge des Schwertes in die blossen Hände und verletzt sich dabei. Er erhält gleichsam die Wundmale Christi, geht zum Kreuz, wo er sich in entsprechender Pose die Hände abwischt.

Vergeblich versucht Lievi mit solchen und ähnlichen Bildern die Brisanz ins Stück zurückzuholen, die es zur Entstehungszeit gehabt haben muss. Eine eher kunsthandwerkliche Inszenierung also, die wohl kaum in dauerhafter Erinnerung bleiben dürfte. Auch den Figuren gibt Lievi unterschiedliche Aufmerksamkeit. Reinaldo Macias singt Raffaele tadellos, doch die Regie vermittelt einem das Gefühl, er sei einer andern Oper entsprungen. Dem Stiffelio von José Cura ist die Zerrissenheit der Gefühle - zwischen Rachsucht und Versöhnung von Verdi mit Sorgfalt gestaltet - anzumerken. Er findet vor allem im leisen Ausdruck unglaublich schöne Farben und eine starke Eindringlichkeit. Im lauteren Bereich und in höheren Registern wird sein Timbre jedoch schnell etwas nasal, und im dritten Akt litt bei der Premiere gar die Intonation. Einen grossen Abend hatte Emily Magee mit ihrem Rollendébut als Lina. Sie erfüllte die zentrale Frauengestalt des Abends mit Leben, gestaltete sie enorm vielfältig, genau und mit wunderbarem Zeitgefühl; auch vermochte sie innerhalb dieser düsteren, erstarrten Gesellschaft zu zeigen, was erotische Ausstrahlung ist.

Gross war der Auftritt von Leo Nucci als Graf Stankar, der vom Publikum geradezu frenetisch gefeiert wurde. In den Nebenrollen agierten Günther Groisböck, Martin Zysset und Margaret Chalker sicher, und der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor des Opernhauses Zürich überzeugte vor allem auch bei den heiklen A-cappella- Stellen. Die musikalische Leitung lag in den Händen von Stefano Ranzani, der seinen Verdi genau kennt und das Orchester der Oper Zürich kundig, mit schönen Farben, allerdings im Piano auch etwas undifferenziert durch das Werk führte.