Verdi wie aus dem Geschichtsbuch

Tobias Gerosa, Zürcher Oberländer (28.09.2004)

Stiffelio, 26.09.2004, Zürich

Neuinszenierung von «Stiffelio» des Regisseurs Cesare Lievi am Opernhaus Zürich

Kein Glück mit Verdi am Zürcher Opernhaus: Die Neuinszenierung von «Stiffelio» des Regisseurs Cesare Lievi reiht sich nahtlos ein in eine ganze Reihe vor allem szenisch unbedarfter Produktionen ohne Idee und Gestaltungswille. Während Dirigent Stefano Ranzani mit viel Elan durch die Partitur führt, überzeugen die Solisten trotz grossen Namen nur beschränkt. Dabei wäre erstmals in Zürich ein durchaus interessantes Stück zu entdecken.

Erst im letzten Mai inszenierte Cesare Lievi im Opernhaus seine letzte Verdi-oper. Auch damals war es ein selten gespieltes Werk («I Vespri Siciliani»), das mit klingenden Sängernamen lockte. Als wäre es die Fortsetzung, bleibt die Regie auch diesmal belanglos und langweilig, nicht einmal ein Versuch einer szenischen Interpretation des Regisseurs ist zu erkennen. Und so gibt's einmal mehr Oper wie aus dem (italienischen) Bilder- oder Geschichtsbuch. Dabei könnte die Handlung um den Sektenführer Stiffelio, der seine Frau des Ehebruchs überführt, um Familienehre und Eifersucht durchaus spannend sein. Könnte.

Schwarz und abgestumpft

Während das düstere BühnenbildCsaba Antals mit seinen groben, schwarzen Pfeilern Archaik oder totalitäre Prunkbauweise suggeriert, verlegen Lievi und seine Kostümbildnerin Marina Luxardo «Stiffelio» in die Entstehungszeit um 1850. Die Sektenmitglieder in ihren Arbeitermützen sehen aus wie frühe Industriearbeiter, schwarz und abgestumpft.

Doch es könnte irgendeine Zeit sein: Das Ölfass zu Beginn brennt nur zum Verbrennen der kompromittierenden Papiere, und auch die einsame Baggerschaufel im dritten Akt oder der mit ein paar ausgestreckten Kinderarmen plakativ-bemüht gezeigte Guru-Status der Titelfigur verweisen ins Leere.

Überraschend schlichter Schluss

Der Chor darf mehr oder weniger malerisch im Hintergrund stehen und singen (und tut das, einstudiert von Ernst Raffelsberger, mit einigen ungenauen Einsätzen, aber solide), während sich die Solisten durchwegs vorne zwischen klobigem, altdeutschem Tisch und Rampe bewegen.

Dass Stiffelio den offensichtlich noch nicht fertig gebauten Tempel selber entwirft, ist die dominanteste Regie-Idee - auch sie von beschränktem Aussagewert - aber zur Personenführung wie zu den dramaturgisch aussergewöhnlichen Szenen wie dem überraschend schlichten Schluss fällt Lievi wenig ein. Ganz unüblich rasch lässt Verdi hier seine Protagonisten nochmals ihre so unterschiedlichen Gefühlslagen präsentieren, bevor der Blick Stiffelios auf der Kanzel in der aufgeschlagenen Bibel auf die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin fällt und er seiner Frau vergibt. Der Mord am Nebenbuhler Raffaele (von Reinaldo Macias so blasiert gespielt wie unauffällig gesungen), den Linas Vater zur Rettung der Familienehre verübt hat, ist ob der Vergebung für die Frau vergessen.

Beschränkt überzeugt

Dem Stiffelio von José Cura nimmt man diese Wandlung nur beschränkt ab, zu sehr betont er zuvor den Rächer. Auch stimmlich gestaltet er die Rolle als Vorläufer des Verismo: konstant und noch im Leisen unter Hochdruck, oft skandiert und mit seltsam verfärbten Vokalen. Cura bringt so eine ungeheure Energie auf die Bühne, bleibt der musikalischen Linie aber manches schuldig.

Überhaupt steht es um den spezifischen Gesangsstil nicht besonders gut, denn auch Emily Magee als untreue (oder verführte) Ehefrau Lina bekundet in leisen Stellen vor allem vor der Pause Mühe. Wo Dramatik oder Führungsrolle im Ensemble gefragt ist, überzeugt sie deutlich mehr. Doch wie Veteran Leo Nucci, der ihren Vater Graf Stankar in bester stilistischer Tradition, aber mit nasalem Timbre und von unten angeschliffenen hohen Tönen singt, bleibt Magee auf die szenischen Standardgesten beschränkt.

Dirigent Stefano Ranzani versucht mit Verve und Elan, auch die Brüche hörbar zu machen. Doch wo die Oper in ihren Szenen und Ensembles, welche die Arien der Nummernopern weitgehend verdrängen, die Konvention hinter sich zu lassen beginnt, führt sie die Inszenierung ständig wieder ein.