Halb imaginär, halb real

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (06.07.2004)

Der Rosenkavalier, 04.07.2004, Zürich

Richard Strauss' «Rosenkavalier» im Opernhaus

Die Festspielpremiere des Zürcher Opernhauses lässt sich zwar nicht dem Schwerpunktthema Böhmen zuordnen, doch der «Rosenkavalier» von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist eine Festoper par excellence, und sie erfährt hier eine Wiedergabe, die in jeder Hinsicht Festspielrang hat.

Wie viel Spielraum hat ein Regieteam, das den «Rosenkavalier» traditionell und in historischen Kostümen, aber nicht konventionell aufführen will? Bis ins kleinste Detail von Ausstattung und Personenführung gibt das Textbuch von Hugo von Hofmannsthals «Komödie für Musik» die szenische Realisierung des Werkes vor. Doch der Ort, wo die Handlung spielt, ist «halb imaginär, halb real»: Wien zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia. In diesem «halb und halb» scheinen Sven- Eric Bechtolf (Regie), Rolf Glittenberg (Bühne) und Marianne Glittenberg (Kostüme) den Schlüssel gefunden zu haben, der ihnen die Türen öffnet in den Phantasieraum eines neuen und doch vertrauten «Rosenkavaliers».

Vieles darin ist anders als üblich. Im ersten Akt gibt es weder ein Bett noch einen Alkoven. Die Marschallin und ihr junger Liebhaber Octavian befinden sich in einem lichtdurchfluteten Zimmer mit gerundeter Fensterfront. Die rechte Wand ist mit einer Schar bunter Porzellanvögel dekoriert. Wären sie lebendig, könnten sie auf die im Raum verteilten kahlen, schlanken Bäume flattern. Doch es ist eine Kunstwelt, mit artifiziellem Raffinement und subtilster Ästhetik inszeniert. Die Vorliebe des Rokoko-Zeitalters für Exotisches spiegelt sich in den à l'indienne gekleideten Lakaien und - einer von vielen witzigen Einfällen - im Auftritt des Sängers als chinesischer Schachautomat, der allerdings von Boiko Zvetanov auch eine automatenhaft laute Tenorstimme erhält.

Anders, aber wiedererkennbar

Noch ungewöhnlicher die Szenerie des zweiten Aktes (Saal bei Herrn von Faninal): Die Überreichung der silbernen Rose, bei der sich Sophie, die Braut des Barons Ochs auf Lerchenau, und der Rosenkavalier Octavian begegnen, findet in der im Soussol des Palais gelegenen Küche statt. Das Zeremoniell erhält dadurch fast alltäglichen Charakter, aber die Atmosphäre erregter Erwartung wird durch das geschäftige Hantieren des Personals - mit aktiver Assistenz Sophies - noch gesteigert, und der Reichtum des Faninal lässt sich an der Ausstattung seiner blitzblanken Küche sehr wohl ablesen. Farbgebung und Lichtführung sind hier ebenso stimmig und stimmungshaft wie im ersten Akt. Dass der dritte in einem schäbigen Vorstadt-Beisl spielt, wirft auf die meisten «Rosenkavalier»-Aufführungen einen Schatten. Auch dies ist bei Bechtolf und den Glittenbergs anders. Sie führen uns zurück in das mit einem Zelt ergänzte Zimmer der Marschallin, womit nicht nur der Glanz der vorangegangenen Akte erhalten bleibt, sondern auch - was mehr zählt - der innere Bezug zwischen Anfang und Ende verdeutlicht wird. Denn zum einen ist ja das Rendez- vous von Ochs und «Mariandel» nichts anderes als eine ordinäre, von Octavian als turbulente Maskerade veranstaltete «Paraphrase» der Liebesnacht Octavians und der Marschallin. Und zum anderen erfüllt sich hier, was die Marschallin damals schmerzlich erahnt hat: dass sie Octavian bald an eine andere, Jüngere verlieren wird. Aber nicht nur der erste «Rosenkavalier»-Akt lebt in diesem intensivsten Teil der Aufführung wieder auf, sondern auch der alte Falstaff in der Geisternacht und der «Sommernachtstraum».

So gehen in dieser Aufführung Wiedererkennen und Neuentdecken Hand in Hand. Innovation resultiert dabei nicht aus radikalen Brüchen mit der Tradition, sondern aus einer Vielzahl kleiner, geistreicher Variationen und Verschiebungen, bis hin zum zauberhaft elegischen Ausklang mit dem kleinen Mohren. Die Phantasie und die Detailfreude der szenischen Umsetzung sind jedenfalls der Vorlage ebenbürtig. Und drohen die Einfälle des Regisseurs - vor allem im ersten Akt - manchmal auszuufern, so kann man sich an der delikaten Opulenz der Kostüme gar nicht satt sehen.

Frisch und natürlich

Bestimmend für den neuen Zürcher «Rosenkavalier» aber ist der Eindruck von Frische und Unmittelbarkeit, und dies verdankt sich ebenso sehr der musikalischen wie der szenischen Wiedergabe. Franz Welser-Möst lässt den Klang in den leuchtendsten, sattesten Farben aufblühen, aber da er eine ausgesprochen zügige, zielstrebige Gangart pflegt - mit wohldosierten Ruhepunkten - und nicht nur das Farb-, sondern auch das dynamische Spektrum in seiner ganzen Breite ausschöpft, entsteht nie Schwere oder Massigkeit. Das Orchester seinerseits erweist dem früheren Chef mit ebenso musikantischem wie diszipliniertem, reaktionsschnellem Spiel die Reverenz.

Dass mit Nina Stemme eine sehr jugendliche, natürliche Marschallin verpflichtet wurde, drückt der gesamten Besetzung den Stempel auf. Sie hat zwar noch nicht die persönliche Autorität und Ausstrahlung der ganz grossen Rolleninterpretinnen, und ihr Sopran entfaltet erst nach und nach seine Wärme und Geschmeidigkeit - um dann dem Schlussakt das Glanzlicht aufzusetzen -, aber sie passt genau in Bechtolfs Konzept, das die Gattungsbezeichnung wörtlich nimmt: Komödie für Musik. Daran hält sich auch Vesselina Kasarova bei ihrem mit Spannung erwarteten Rollendébut als Octavian. Mit unbändiger Spiellust holt sie alle Facetten dieser Bühnengestalt ans Licht. Nicht nur darstellerisch, auch stimmlich weiss sie dem ständigen Changieren zwischen Bub, Mann und Kammerjungfer Ausdruck zu geben. Das Rollenbild mag noch nicht ganz gefestigt und in sich geschlossen sein, doch schon jetzt lässt sich erkennen, dass Vesselina Kasarova einen ganz eigenen Rosenkavalier kreiert hat.

Alfred Muff als Ochs dürfte im Protagonistenkreis der Sänger mit der längsten Rollenerfahrung sein. Er macht sie fruchtbar in einem Charakterbild von urwüchsig temperamentvoller, aber nie ordinärer Art, das Momente stimmlicher Sprödigkeit leichthin integriert. Die Dritte im Bund der Frauenstimmen ist Malin Hartelius, keine puppenhaft gezierte, auf den strahlenden Silberton fixierte Sophie, sondern eine, die auch der Kränkung und dem Schmerz - als sie im dritten Akt Octavian zu verlieren meint - Ausdruck zu geben vermag. Zahlreiche weitere Figuren wären noch anzuführen, von Rolf Haunsteins Faninal, Liuba Chuchrovas Leitmetzerin, Rudolf Schaschings Valzacchi und Brigitte Pinters Annina bis zu dem für einmal wirklich als Knabe dargestellten Sohn und Kammerdiener des Ochs. Es genüge hier die Feststellung, dass sie alle zur Vielgestaltigkeit und Farbigkeit dieser Aufführung beitragen. - Nach der im Dezember letzten Jahres präsentierten Neuinszenierung von «Elektra», dem so völlig anders gearteten Vorgängerwerk des «Rosenkavaliers», hat das Opernhaus mit dieser Festspielproduktion einen weiteren markanten Akzent in seinem Strauss-Repertoire gesetzt.