Schönheit, unaufhörlich und schon vorbei

Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger (06.07.2004)

Der Rosenkavalier, 04.07.2004, Zürich

Das Zürcher Opernhaus hat einen klugen und hochmusikalischen «Rosenkavalier»: Die Festspiel-Premiere am Sonntag wurde zum Triumph.

Leicht macht es dieses Stück einem Regisseur nicht. Denn «Der Rosenkavalier» ist eine perfekte Oper. Was je an idealem Zusammenwirken von Text und Musik versucht wurde, ist hier erreicht. Wort und Ton sagen alles, die kompositorische Illustration eines federleichten, von der Zeit verwehten, wundersam bedeutungslos poetischen Geschehens ist bis in die einzelne Note vollkommen. Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal bringen die Sache sozusagen unter sich zu Ende und lassen keine Lücke offen, in der ein ehrgeiziges Regieteam seinen konzeptuellen Hebel ansetzen könnte.

Selbst die zart-ironische Distanzierung vom eigenen nostalgischen Tun wird bereits geliefert. «Die schöne Musi», plärrt im dritten Akt das betrunkene Mariandel: «Da möchte man weinen.» Und man lacht, während man doch längst schon feuchte Augen hat - «weils gar so schön ist». Was bleibt, sind die Figuren, die in ihrer historischen Wirklichkeit längst tot sind und doch im Kunstraum der Oper so lebendig und liebenswert wie keine anderen. Ihnen tatsächlich mit Liebe und ernsthaftestem Respekt begegnet zu sein, ist die erste und schönste Qualität dieser Inszenierung. Doch von vorne.

Erstarrte Zeit, zeitlose Handlung

Franz Welser-Möst startet mit furiosem Tempo zum Vorspiel. Zu sehr Hals über Kopf vielleicht, bald aber wird er das Verhältnis von dramatischem Zug, Detailausformung und transparenter Präzision finden und daraus einen wahrhaft grossen Abend machen. - Vorhang auf, wir finden die Marschallin mit ihrem Lover Oktavian am Boden im Bett. In einem weissen Raum, der von kahlen Bäumen durchwachsen ist, an der Seitenwand ausgestopfte Vögel über einem grossen Kamin, die hohen Fenster im Hintergrund sind beschlagen - es ist Winter, eine ästhetisch erstarrte Zeit für die zeitlose Handlung hat Bühnenbildner Rolf Glittenberg entworfen, Marianne Glittenbergs Kostüme deuten ein vages 18. Jahrhundert an.

Das Bühnentemperament wird vorerst von Vesselina Kasarova als Oktavian bestimmt. Ein aufbrausender junger Liebhaber ist sie, mit blitzenden Augen, mit Feuer und kernig strahlendem Glanz in der Stimme. Auch Nina Stemme ist eine noch junge Marschallin, zu verliebten Spässen aufgelegt; die verwunderte Melancholie und die ergebene Gelassenheit ihrer eigenen Vergänglichkeit und der ihrer Affäre gegenüber wird sie erst im berühmten Monolog über die Zeit erlangen. Dieser gerät im Zusammenwirken mit Franz Welser-Möst und dem sensationell disponierten Orchester der Oper zum innigen Kern des Akts. Da ist alles hörbar und musikalisch evident, von den zerrieselnden Bläserfiguren bis zu einem Timing, das von Anfang bis Ende «stimmt».

Regisseur Sven-Eric Bechtolf lässt den Figuren Raum, verzichtet auf Spielchen, wo es ernst wird, spart die Originalitäten auf für die turbulente Antichambre, die dazwischen das fürstliche Schlafzimmer überfällt: Hundeverkäufer, die bettelnden adeligen Waisen, ein barock bizarr kostümierter Friseur und der Tenor haben ihren Auftritt. Letzterer - Boiko Zvetanov schmettert kraftvoll seine italienische Arie - erscheint als singender Schachautomat, ein fröhlich einleuchtender Einfall.

Anderes gibt grössere Rätsel auf. Etwa wieso der zweite Akt in der Küche des bürgerlichen Brautvater-Palais spielt. Und was werkeln die Köche da mit blauer Masse und Fleischwölfen? Ist es symbolisch adeliges Blut, das hier in blaue Blutwürste abgefüllt wird? Egal, dem Zauber der Übergabe der silbernen Rose tut es keinen Abbruch, ja für diesen magischen Moment wird die Zeit gar in dornröschenartigem Bewegungsstillstand für einen Augenblick angehalten.

Kinder-Lakaien, greiser Sekundant

Malin Hartelius ist eine so süss-naive Sophie, dass sie nicht nur ihren Rosenkavalier, sondern spürbar auch das Publikum augenblicklich verzaubert. Und ihr Bräutigam? Schon im ersten Akt hatte Alfred Muff dem Baron Ochs von Lerchenau noch einen Rest Noblesse gelassen, den aufgeblasenen schlechten Kerl nicht zum Buffo-Trampel verkommen lassen. Jetzt aber, wo ihm seine junge Braut und ihr neuer Verehrer so widerspenstig mitspielen, wo er schliesslich mit blutender Blessur ächzend auf dem Küchentisch liegt, gibt ihm Muff geradezu Falstaff-würdige Dimensionen. Wie prächtig er lamentiert, wie er sich dennoch wundernd amüsiert über die groteske Geschichte, die ihm da widerfährt, wie er gar zum Verzeihen bereit wäre, wie er sich auf sein Federbett freut.

Dem alten Ochs hat die Regie einen Kinder-Lakaien beigegeben, sein eigen Fleisch und Blut, «ein Kind seiner Laune». Im Zimmer der reifen Marschallin spielte ein Kind (der «kleine Neger» bei Hofmannsthal). Und auch der 17-jährige Oktavian hat sein altersmässiges Vis-à-vis, einen zitternden, fast scheintoten silbernen Greis als Sekundanten: Vergangenheit und Zukunft sind in jedem Lebensaugenblick vorhanden, Hofmannsthals «Gleichzeitiges im Ungleichzeitigen» erlangt hier leise schaudernde Bühnenwirklichkeit.

Im dritten Akt lässt Bechtolf daraus wirkliche Skelett-Gespenster werden, die des Barons Tête-à-tête im Beisl grotesk aufmischen. Dieses ist ein Zelt im Raum des ersten Akts, die Kellner sind, weil der Ochs sie eben einmal so bezeichnet, tatsächlich als Maikäfer kostümiert. Doch die Groteske wird nicht überdreht, ordnet sich dem Spektakel unter, das die Handlung nun entfacht.

Herausgehoben aus dem übrigen, durchweg ausgezeichneten Ensemble seien Brigitte Pinter und Rudolf Schaschnig als virtuoses Intrigantenpaar - und Rolf Haunstein, der als Brautvater Faninal einen zu fassungslosem Entsetzen angesichts des Scherbenhaufens seines erhofften sozialen Aufstiegs gesteigerten grossen Auftritt hat.

Im Übrigen aber gilt es, noch einmal zu bewundern, wie sorgfältig Bechtolf die Figuren führt. Wie durch blosses Positionieren, durch angedeutete Gesten und Blicke zuletzt die subtilen Beziehungen im Trio von Sophie, Oktavian und Marschallin allmählich unwiderruflich geklärt werden. Und wie die drei fantastischen Frauenstimmen verschmelzen in einer Schönheit, die unaufhörlich und doch immer schon vorbei ist. Geführt von einem Franz Welser-Möst, der in den grossen Schlussovationen mit allem Grund als Star des Abends gefeiert wurde.