«Halb Mal lustig, halb Mal traurig»

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (06.07.2004)

Der Rosenkavalier, 04.07.2004, Zürich

Zürcher Festspiele: «Der Rosenkavalier» von Richard Strauss als Neuinszenierung am Opernhaus

Neu ist hier fast alles - so neu, dass es den Operhhabitué, der auf seinen «RosenkavaIier» eingeschworen ist, verwirren mag. Doch die Neuinszenierung von Sven-Eric Bechtolf, wenn ihr auch nicht alles restlos überzeugend gelingt, zeigt doch eines: Es geht auch ohne Rokoko-Patina aus zweiter Hand.

Nein, wenn der Vorhang sich erstmals hebt, liegen sie nicht im Bett. Knutschen die Feldmarschallin (nach Hofmannsthals, des Librettisten, Vorstellung 35 Jahre alt) und ihr junger Liebhaber Octavian (17), der von einem Mezzosopran gesungen wird, nicht einigermassen verlegen in zerwühlter Bettwäsche herum. Oh nein, die sind nämlich bereits getrennt, waren es wohl von Anfang an. Denn während er, auf dem Bett kniend, in spätpubertären Aufschwüngen seine Liebe beschwört, sich ekstatisch in «selbstischen» Worten ergeht, ohne damit ein Du zu erreichen, steht sie, die ihn in die Liebe eingeführt hat, weit weg draussen im Garten und schaut hinter der immensen Fensterfront ins Schlafzimmer: Was hat sie da angerichtet?

Pekingoper

Solche Bilder sind es, die uns an der (visuellen) Oberfläche die Abgrundtiefe der psychologischen Vorgänge subtil versteckend - auf einen einzigen Blick alles erahnen lassen. Für den ersten Akt hat Rolf Glittenberg einen immensen, lichten Innenraum gebaut, die ganze Hinterfront durch wahrhaft übermenschlich grosse Fenster abgeschlossen. Frei wird der Durchblick nach aussen allerdings nie, die Fenster sind schon halb blind geworden. Wer von aussen hinein schaut, ahnt mehr als er erkennen kann - ausgeschlossen vom Lebenszusammenhang.

Immer wieder gelingt es dem Regisseur, szenische Aperçus - etwa der Auftritt der «Bagagi» mit einem Sänger im Zentrum - mit leichter Hand unaufdringlich, manchmal fast unmerklich ins gesamte Handlungsgewebe einzuflechten. Der Sänger also tritt als «Geschenk» auf, eingepackt in eine riesige Box; alles ist in chinesischer Manier fein adrett drapiert, und wie sich die Verpackung endlich öffnet, steht der Sänger wie ein Direktimport aus der Pekingoper da, starr ein Visitenkärtchen in der Hand, auf dem wohl der Name jenes Liebhabers steht, welcher der Marschallin hiermit ein Geschenk machen will.

Evanouissement

Nun beginnt der Tenor seine gefürchtete Arie zu singen - dies allerdings auf jene typisch italienisch-tenorale Macho-Art, als ging es um die eisumgürtete Turandot und ihren Kalaf bei Puccini (China grüsst). Prompt wird die Marschallin ob so viel tenoralen Schmelzes oder auch nur der puren Lautstärke wegen von einem plötzlichen évanouissement ereilt und gleitet sanft zu Boden. Es darf in diesem «Rosenkavalier» nämlìch gelacht werden - «ein halb Mal lustig, ein halb Mal traurig», ganz nach der Marschallin Devise.

Der zweite Akt spielt zwar im Palais von Faninal, aber nicht im Empfangsaal, sondern in der Küche im Souterrain - dort, wo alle kulinarischen Vorbereitungen zur festlichen Überreichung der silbernen Rose zusammenlaufen. Auch Sophie steht an einem der sechs Küchentische, führt - mit der Zubereitung von zarten Schnitzeln beschäftigt, - das nach einem respektablen Dutzend zählende Küchenpersonal an. Die Rosenübergabe fíndet seitwärts neben dem Treppchen zur Vorratskammer statt (wo der später so dringend gebrauchte Tokaier Iagert), «festlich» bestenfalls in Anführungszeichen, jedenfalls fremd in dieser umtriebigen Welt. Und die Zeit, wenn sich Octavian und Sophie duettierend in eine präexistente Kinderwelt zurückzuträumen beginnen («Wo war ich schon einmal, und war so selig») - die Zeit, die steht dann wirklich still.

Sommernachts-AIbtraum

Der drítte Akt mit seinen diversen Maskenspielen und Verwechslungskomödien spielt nicht im Extrazimmer eines Gasthauses, sondern wieder in der Marschallin Schlafzimmer, welches - mit einem Mini-Bier-Zeltchen in der Mitte - auf Beisl-Atmosphäre getrimmt wird. Überzeugend wirkt das allerdings bis zum Schluss nicht so recht, zumal es den wahrhaft beklemmenden Eindruck, den man vom ersten Akt noch in sich spürt, irgendwie schal werden lässt.

Getreu nach dem Wortlaut des Librettos («Was woll'n die Maikäfer da?», fragt Ochs) treten Wirt und Kellner mit Insektengesicht samt überdimensionierten Fühlern auf und die (vermeintlichen?) Kinder des Baron Ochs mit Insektenflügeln: ein einziger Sommernachts-Albtraum. Entsprechend schwierig wird es nach all diesem Kunterbunt, beim Auftrift der Marschallin zu gehörigem Ernst zurückzufinden. Und als er sich schliesslich einstellt, wirkt er bleich und blutarm: Dieser Gesellschaftsschicht, der herrschenden, wir ahnen es, scheint die Zukunft nicht wirklich mehr zu gehören.

Spielstück

Was solcherart szenisch mit leichter Hand angedeutet wird - ohne den Zwang, es immer fassen zu müssen -, findet in der musikalischen Realisation ein glückhaft kongeniales Pendant. Statt die Musik, da und dort eh lustvoll vorlaut, protzig aufzubauschen, dirigiert sie Franz Welser-Möst mit leichter Hand als unbeschwertes Spielstück («Komödie für Musik» nannten es die beiden Autoren), reizvoll in der aparten Klanglichkeit der kammermusikalischen Details.

Er legt die musikalischen Reize der Partitur aus wie eine edle Sammlung von glitzernden Edelsteinen, die er überdies mit dem Orchester der Oper Zürich aufs Sorgfältigste zugeschliffen und poliert hat. Das instrumentale Parlando klingt wunderbar geschmeidig und beredt und hat - gerade dort, wo Tiefsinn an der spielerischen Oberfläche aufblinkt - eine gleichsam lässige Grazie, hat Schwung,, Lockerheit und gewinnt eine zuweilen fast narkotisierende Leuchtkraft.

Noblesse

Hochkarätige Sängerstimmen tragen zum Glück der Aufführung bei. Nina Stemme kann als Marschallin mit fülligem Sopran aus dem Vollen schöpfen, beherrscht gleichzeitig das leicht fliessende Parlando famos, ohne je das Larmoyante zu streifen, und ist eine fein differenzierende, sehr anrührende Darstellerin von beeinruckender Erlebnisfähigkeit. Vesselina Kasarova singt ihren ersten Octavian (und damit ihre erste Strauss-Partie überhaupt), beneidenswert strahlkräfig in den jünglingshaft überschwänglichen Aufschwüngen. Das ganze «qui-pro-quo», die Frau in einer Jungmännerrolle, die sich zudem bei Bedarf in ein Dienstmädchen verkleidet, wirkt keinesfalls übertrieben, könnte im Gegenteil sogar noch klarer voneinander abgesetzte Konturen vertragen.

Alfred Muff singt und spielt den Baron Ochs ohne aufgesetzte Dickwanstigkeit; das Komödiantische (auch in seiner Stimme wird nie derb, sondern bleibt stets Spiel. Malin Hartelius verströmt in der Rosenübergabe wunderbar lyrische (und wunderbare höhensichere) Innigkeit, der Liebreiz in Person sozusagen, weiss aber auch mit entschiedener Energie zu parlieren. Rolf Haunstein steIlt als Faninal den perfekten Neuadligen dar - nämlich noch nicht in allen Belangen stilsicher dem Adel zugehörig. Und Boiko Zvetanov als Sänger, wie gesagt: Da scheint sich ein stimmstrotzender Kalaf in den «Rosenkavalier» verirrt zu haben. Wie auch immer: Die übrigen zahlreichen Mitwirkenden fügen sich nahtlos ins szenische und musikalische Konzept dieser Aufführung,ein, und diese überzeugt - wenn nicht in allen Belangen - vor allem durch das, was am schwierigsten zu erreichen ist: durch Noblesse.