Doktor Faust, der verunglückte Mann

Herbert Büttiker, Der Landbote (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Zum Wetterleuchten der beginnenden Moderne hat Ferruccio Busoni Entscheidendes beigetragen. «Doktor Faust», sein Hauptwerk, ist im Opernhaus seit langem wieder zu sehen, mit grossartigen Interpreten auf und vor der Bühne.

Gleich drei Inszenierungen widmet das Opernhaus in dieser Spielzeit der Figur des Faust. Goethes alles überragende Gestaltung stand Pate bei Gounods lyrischem Margarethe-Drama und bei Schu-manns oratorisch konzipierten «Szenen aus Goethes Faust», die in dieser Saison auf dem Spielplan stehen. Ferruccio Busoni dagegen setzte dort an, wo auch Goethe angefangen hatte: beim Puppenspiel. Sein Text ist mit Pakt und Studierstube zwar nahe bei Goethe, aber die «primitive» Form des Puppenspiels scheint hier genau so durch wie in der Fortsetzung, der Szene am Hof des Herzogs von Parma, dessen Frau Faust in der Hochzeitsnacht verführt. In den Studenten-Szenen in Wittenberg und dem Schluss geht Busoni dann eigene Wege. Zu Ende gehen konnte er ihn nicht. Über den Schluss und damit die Gesamtsicht des Dramas gibt es des halb eine Kontroverse. Entspricht der von Philipp Jarnach komponierte Schluss mit Mephistopheles gesprochener Frage «Sollte dieser Mann verunglückt sein?» der Absicht des Autors oder Anthony Beaumonts Neufassung (1985), die wie Busonis Entwurf andeutet, am Ende Fausts «ewigen Willen» preist?

Männliche Arroganz

Die Zürcher Inszenierung folgt musikalisch der Jarnach-Fassung, zeigt aber gerade im Schluss subtiles Abwägen: Der Mann verschwindet im Dunkel, die schöne Helena (wie Busoni es will) am Kreuz, im Hintergrund der Jüngling, den Faust mit letzter Anstrengung aus dem toten Kind herausgezaubert hat – das ergibt ein abgründig zwiespältiges Fazit im Hinblick auf eine europäische Geistesgeschichte, die männliche Schöpferpotenz feiert, und jetzt, im Anblick der Gekreuzigten, den Fokus auf die Frau, das geschundene «Werkzeug» des Mannes, richtet. Und statt der alten Frage «Verdammt?» oder «Gerettet?» jetzt: «Verunglückt?»

Thomas Hampson, schon in Salzburg (1999) Protagonist dieser Faust-Oper, ist die ideale Verkörperung dieses Männerbildes von «Wohlgestalt und Geist und Mannheit»: markiger Bariton, ein wenig stumpf, aber kraftvoll die Höhe, wuchtige Deklamation, schon im Ton und Habitus die Ausstrahlung männlicher Arroganz. Sie überstrahlt ein wenig die in der Figur auch vorhandenen Gegenzüge von Ohnmacht, Zweifel, die sympathischere Register fordert. Aber in der musikalischen Hochspannung von Busonis Musik und der Dauerpräsenz auf der Bühne ist Hampson in dieser Partie ein Ereignis. Er trägt den Abend.

Neben der Zentralfigur gibt es in der Oper fast nur Nebenpartien, aber von der Komplexität der Musik sind auch sie alle stark herausgefordert, so Sandra Trattnigg mit strahlendem Sopran als Herzogin, Reinaldo Maci as mit resolutem Tenor als Herzog (zuvor schon als Soldat in der auf die Gretchen-Tragödie verweisenden Szene). Hinzu kommen ganze Gruppen von Studenten, Juristen, Theologen, Geister, und als Widerpart und Partner Fausts am wichtigsten: Gregory Kunde als Mephistopheles, der mit heldisch-schneidenden hohen Tönen und mit kantigem, aber auch nonchalant-listigem Spiel eine unheimliche Bühnenpräsenz entfaltet.

Prima la musica

Die Wirkung aller Figuren unterstreichen Maske und Kostüm (Eva Dessecker), die auf raffinierte Art immer wieder auf die Welt des Puppentheaters verweisen – und es noch mehr tun würden, wäre nicht die Bühne insgesamt ziemlich dunkel. Eduardo Arroyos Bühne allerdings bezieht gerade aus dem Halbdunkel, aus der Hintergrundbeleuchtung grosse Wirkung. Effektvoll kontrastieren die hohen Glasgestelle von Fausts Laboratorium zu den mit allen möglichen Realien voll gestopften Regalen der Universitäts-Szene, wo allerdings die Helena-Erscheinung samt Tischbein- Goethe, halb im Wust versinkend, nicht voll zur Geltung kommt. Weniger von Magie als steifer Opernfalte geprägt ist das Parma-Bild, das seltsam in die Leere mündet.

Man wundert sich vielleicht über solche Halbherzigkeiten der Regie, die in ihrer Zurückhaltung aber auch klug verfährt und in der ruhigen Personenführung klare Akzente setzt. Klaus Michael Grübers offensichtliches «Prima la musica» kann sich einerseits auf Busonis «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst» berufen – «die halbe Arbeit am Kunstwerk hat der Empfänger zu verrichten» –, andererseits hat die Inszenierung tatsächlich einen musikalischen Anwalt, der alle Suggestivkraft der fast monströsen Partitur auslotet. Philipp Jordan lenkt das Geschehen konzentriert und knapp, führt es durch geballte Tutti-Steigerungen und präzis ziselierte Bläserpassagen, schafft den Gesangsstimmen Raum, hat die Fernchöre im Griff, die das Klanggeschehen entgrenzen, und führt alles zusammen zu jener dichten «linearen Polyphonie», die Busonis Ideal war.