Wahrheiten, Gewissheiten - und ihre Aufhebung

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (18.12.2006)

Ariadne auf Naxos, 16.12.2006, Zürich

«Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss im Opernhaus Zürich

Was wohl Hulda Zumsteg zu diesem beispiellosen Vorfall gesagt hätte? Wir wissen es nicht; sie blickt stumm durch ihr Lorgnon, so wie es das vertraute Bild unter der Reihe der Zunftwappen zeigt. Zu sehen bekommen hätte sie nämlich einen nicht ganz üblichen Abend in der Zürcher «Kronenhalle». Anfangs läuft alles wie gewohnt; es fehlt nicht an Gästen und nicht an prominenten Gesichtern - unter ihnen etwa der Senior einer bekannten Familie von Zürcher Bankiers, der sich zusammen mit dem Direktor des hiesigen Opernhauses an einem der Tische mit ihren Lampen niederlässt.

Nach einigen Zwischenfällen, die an diesem Ort zur Not noch denkbar wären, erscheint dann aber jene schlimme Viererbande mit ihrem Girl, die alles mächtig durcheinanderbringt. Herr Senn ist nicht im Dienst, aber seinem Stellvertreter und den tüchtigen Kellnern gelingt es schliesslich, die Langhaarigen in ihren Smokings aus dem Lokal zu befördern. Das Weite gesucht haben derweil freilich auch die Gäste; wie es an diesem Abend in der Kasse aussieht, wollen wir uns hier lieber nicht ausmalen.

Brechungen, Übersetzungen

In der Tat, der Regisseur Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt, die am Ende dieses wunderbaren Abends im Opernhaus Zürich dafür einige Missfallenskundgebungen entgegenzunehmen hatten (was sie ehrt), haben sich erlaubt, die «wüste Insel», die Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss für den zweiten Teil ihrer Oper «Ariadne auf Naxos» vorgesehen haben, in die Zürcher «Kronenhalle» zu verlegen. Schon wieder dieses Regietheater. Nun, man darf sich ereifern, am Ende erbringt der Einfall aber doch mehr, als man vielleicht denkt. Er bricht den hohen Ton, den Textdichter und Komponist anschlagen und den sie selbst - vor allem im ausführlichen Vorspiel vor der eigentlichen Oper - mit aller Kunst aus den Fugen heben. Und er übersetzt die aus den Fernen des Mythos stammende Geschichte Ariadnes, Verlust und Neubeginn im Zeichen der Veränderung, in eine konkret fassbare, wenn auch ebenfalls mit Zeichen des Mythos verbundene Gegenwart. Die «Kronenhalle» ist ja bekanntlich nicht einfach ein Speiselokal.

Liebevoll ist dieser Raum ausgestaltet und (von Jürgen Hoffmann) beleuchtet; auch wenn er alles andere als trist wirkt, erinnert er in seiner starken atmosphärischen Ausstrahlung ein wenig an die genialen Abstellkammern, die Anna Viebrock für Christoph Marthaler schafft. So wüst, wie es der gnädige Herr Auftraggeber im Vorspiel bemängelt, ist diese Insel also nicht; sie passt vielmehr ganz und gar in das «wohlbestallte Haus», das seit dem zwar knappen, aber doch günstigen Kantonsratsbeschluss seine Übertitelungsanlage eifrig benutzt - auch in diesem deutsch gedichteten Stück, was nicht zu einem Pleonasmus führt, vielmehr zu erhöhtem Erkenntnisgewinn.

So lässt sich sehr genau mitbedenken, dass es in dieser Oper gewiss um die Oper geht, um eine Selbstreflexion der Gattung über die Möglichkeiten ihrer weiteren Existenz, aber vielleicht doch auch um mehr. Claus Guth, ein brillanter Denker und ein phantasievoller Interpret, deutet an, dass «Ariadne auf Naxos» auch von seelischer Erstarrung spricht, die sich aus Herkunft und Selbstverständnis ergeben mag, und von deren Überwindung. Nicht von ungefähr ist der neue Gott, den Ariadne als den Boten ihres Todes sieht, der Gott des Rausches, der voll in die Trauben greift und die Becher füllt. Dass das durch die Wahl des Spielorts ins Gesellschaftliche geweitet wird, mindert die im Text angelegte Verherrlichung des Mannes und damit den restaurativen Zug, der bei diesem Stück so gerne geortet wird.

Ausgezeichnet kann man diese Auslegung nachvollziehen, und man tut es mit umso mehr Vergnügen, als sie auf denkbar hohem Niveau erfolgt. Blendend die Bühnenaktion im Ganzen, brillant die Ausformung der Figuren im Einzelnen. Äusserst agil bringen sich die vier Komödianten (Gabriel Bermúdez, Martin Zysset, Reinhard Mayr, Blagoj Nacoski) und die drei Rheintöchter ein (Eva Liebau, Irène Friedli, Sandra Trattnigg). Wenn Elena Mouc als Zerbinetta ihre unglaublichen Höhen erklimmt und ins Tirilieren gerät, übertrifft sie sich selbst. Während Emily Magee (Ariadne) und Roberto Saccà (Bacchus), was die vokale Ausstrahlung und technische Sorgfalt betrifft, ein ideales Paar bilden. Und getragen wird das musikalische Geschehen von einem instrumentalen Fluss, der durch den Dirigenten Christoph von Dohnányi aus grosser Erfahrung heraus belebt und zugleich zu höchster Differenzierung getrieben wird - das Orchester der Oper Zürich, hier eher solistisch gefordert, durch Harmonium und Klavier unterstützt, meistert das bravourös.

Vor dem Vorhang

Das grosse Vorspiel zu «Ariadne auf Naxos», das einen immer wieder erheiternden Blick hinter die Kulissen ermöglicht, das die Zuschauer am Wettstreit zwischen dem versteinert Tragischen und dem bodenständig Komischen teilnehmen und die überaus vitale, um nicht zu sagen: lebensnotwendige Ichbezogenheit der Künstler verfolgen lässt - das quirlige Vorspiel ereignet sich zwar auch auf der Bühne, aber vor dem Vorhang. Scharf werden hier die Figuren beleuchtet, überlebensgross sind die Schatten, die sie an den Vorhang werfen.

Für die Partie des überheblichen Haushofmeisters hat sich Alexander Pereira der Mitwirkung von Alexander Pereira versichert, weshalb es wie schon 1993, bei der letzten Inszenierung von «Ariadne» unter seiner Intendanz, einiges zu schmunzeln gibt. Michael Volle ist ein stimmlich opulenter Musiklehrer, der als Blinder mehr sieht als alle anderen, Guy de Mey ein herrlich aufgeblasener Tanzmeister und Michelle Breedt ein berührender Komponist, der sich am Ende doch tatsächlich die Kugel gibt und im zweiten Teil der Primadonna anhaltende Schmerzen bereitet. Klugheit, Witz und Kunstsinn verbinden sich in dieser Produktion zu einem Abend, der das Opernhaus Zürich wieder einmal von seiner besten Seite zeigt.