Auf der Suche nach der Identität

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (18.12.2006)

Ariadne auf Naxos, 16.12.2006, Zürich

Kräftige Buh-Rufe, aber noch viel kräftigere Bravo-Orkane zum Schluss: Die neue Zürcher «Ariadne» verzichtet auf gräzisierende Mythologie, sondern befragt den Mythos auf seinen Realitätsgehalt.

«Antinomie von Sein und Werden» nannte Hugo von Hofmannsthal das Grundthema in seiner «Ariadne auf Naxos», der dritten gemeinsamen Oper mit Richard Strauss. Um zwei gegensätzliche Daseinsformen geht es, und personifiziert werden sie im Gegensatzpaar Ariadne und Zerbinetta. Ariadne liebt nur ein einziges Mal, und sie bleibt dieser Liebe auch treu, nachdem sie verlassen wurde, hält an dieser Treue, «die der Halt von allem Leben ist», fest bis zum Erstarren in Leblosigkeit und wünscht sich letztlich Erlösung durch den Tod.

Situationen sind symbolisch

Zerbinetta ist das Gegenteil: In stetem Wandel begriffen, von einer Verliebtheit zur nächsten flatternd. Sie gibt sich jedes Mal ganz und erlebt sich dabei jedes Mal neu. Aber auch in diesem Preisgeben und Verwandeln liegt so etwas wie Treue sich selber gegenüber beschlossen. Sind es also wirklich gegenseitig sich ausschliessende Lebensprinzipien? Diese Frage steht über der ganzen Inszenierung von Claus Guth. Denn alles, was in dieser Oper unvereinbar scheint - die handgreifliche Realität des Vorspiels im Unterschied zum mythologisch überhöhten Rahmen der Oper, das Gegenüber von Buffa und Seria, von ernst und heiter, Leben und Kunst, Sein und Schein -, ist so eindeutig unvereinbar nicht.

Jedenfalls nicht, wenn Claus Guth inszeniert. Das «handfest» theatralische Vorspiel lässt vor geschlossenem Vorhang - gleichsam bevor das Spiel beginnt - spielen. Die auftretenden Personen sind zur Hälfte schon in ihrer Rolle drin, zur andern Hälfte aber noch Privatperson. Und es zeigt sich, dass beides, Rolle und Privatperson, nicht übereinstimmen muss. Ariadne, die einzig Treue, hat ein Verhältnis mit dem jungen Komponisten, was übrigens an den «Rosenkavalier» erinnert, an die Marschallin mit ihrem Octavian. Und Zerbinetta, die so genannt Flatterhafte, mimt auf der Bühne die Kokette, aber wer sagt, dass ihr Herz dabei im Spiele ist?

Tatsächlich schaut es auch in ihrem Innern ganz anders aus. Und so deckt Claus Guth unter der theatralisch-realistischen Oberfläche des Vorspiels tiefere Schichten des Ahnens und Bedeutens auf, die an Hofmannsthals Wort erinnern, dass Situationen stets symbolisch seien und es «die Schwäche der jetzigen Menschen» sei, «dass sie sie analytisch behandeln und dadurch das Zauberische auflösen». Genau dieser Schwäche verfallen Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt nicht - und genau das macht die unvergleichliche Stärke dieser Inszenierung aus.

Realistischer gehts nimmer

Zumal sich in der eigentlichen Oper (nach dem Vorspiel) die Dinge kehren: Der Kunstcharakter dieses mythologisch-artifiziellen Gebildes wird auf seinen Realitätsgehalt überprüft. Christian Schmidt hat dafür die Zürcher «Kronenhalle» auf der Opernhaus-Bühne nachgebaut; Ariadne gibt sich dem Wein (und damit dem Vergessen) hin; die drei Nymphen sowie Zerbinetta und ihre vier Commedia-dell'Arte-Mitspieler übernehmen verschiedene Rollen, mimen mal das Servierpersonal, mal Gäste des renommierten Speiselokals.

Realistischer gehts nimmer - unter den «Kronenhalle»-Gästen ist sogar der Zürcher Opernhaus-Intendant auszumachen, der sich mit einem stadtbekannten Bankier samt Gattin zum Sponsoring-Essen trifft. Spätestens wenn Zerbinetta zu ihrer grossen Arie ansetzt, wird es evident: Auch sie definiert sich über ihre Männer, wie sich Ariadne über ihren einzigen Mann definiert. Beide sind sie auf der Suche nach der eigenen Identität.

Ganz die grosse Tragödie

Gespielt wird das famos, und gesungen erst recht. Emily Magee ist in Stimme und Haltung ganz die grosse Tragödin - ein Rollendebüt der Sonderklasse. Roberto Saccà legt den Bacchus lyrisch an, verfügt gleichzeitig über eine beneidenswert strahlende Höhe - auch das überzeugt auf Anhieb. Elena Mosuc kokettiert als Zerbinetta verführerisch mit ihrer stupenden stimmlichen Virtuosität und erfüllt selbst die unsäglichsten Triller, Michelle Breedt debütiert als Komponist, wobei das Vorspiel beinahe ganz ihrer dramatischen Energie, ihrer blühenden Stimme und ihrem sängerischen Temperament gehört.