Blind Date in der «Kronenhalle»

Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (18.12.2006)

Ariadne auf Naxos, 16.12.2006, Zürich

Am Samstag hatte am Opernhaus Zürich «Ariadne auf Naxos» Premiere.
Die Inszenierung macht daraus existenzielles Spiel mitten in der Gegenwart.

Auch sängerisch und musikalisch ist der Abend ein Sinnenschmaus.
Trotz einzelner Buhs für das irritierend nüchterne Vorspiel ist diese «Ariadne» bis in kleine Details ein grosser Wurf.

Opernmythologie als Wirtshaus-Weisheit: Bei Regisseur Claus Guth ist der Geniestreich von Strauss und Hofmannsthal direkt aus dem heutigen Leben gegriffen.

Das legendäre Restaurant Kronenhalle in Zürich, Samstagabend um halb neun. Die junge Frau sitzt allein am Sechser-Tisch, als würde sie schon eine Ewigkeit warten. Allein mit einem Glas Wein, das der Kellner diskret nachfüllt. Ein missglücktes Blind Date, zu dem der erwartete Traummann nicht erschienen ist?

Allmählich füllt sich der Raum mit Tischgesellschaften, wie sie zur Adventszeit üblich sind. Bis eine Dame mit hochgeschlitztem Kleid für Turbulenzen sorgt: Das erotische Spiel, das sie den Männern abguckt und ihrerseits mit ihren Begleitern treibt, wird plötzlich ernst: Jetzt sind es die lüsternen Männer, die sich nicht mehr abweisen lassen und ihr, in einer Jagd zwischen den Tischen der «Kronenhalle»-Brasserie hindurch, bedrohlich auflauern und nachstellen.

Bevor sie mit ihrem Liebhaber ausreisst, sucht die kokette Dame Zuflucht bei der einsamen Frau am Sechser-Tisch und spendet ihr von Frau zu Frau Trost. Wieso verzagen, wenn man von untreuen Männern sitzen gelassen wird? Fühlen nicht auch Frauen schon die Verlockungen einer «neuen verstohlenen Liebe», während sie sich der alten noch ganz sicher sind?

Wirtshaus-Kumpanei

Die Wirtshaus-Kumpanei zwischen der Komödiantin Zerbinetta und der Prinzessin Ariadne ist exemplarisch für die Neuinszenierung der «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, die am Samstag im Opernhaus Zürich Premiere hatte. Denn da gelingt es auf frappante Weise, mythologisch aufgeladenes Musiktheater auf das Alltagsniveau von Wirtshaus-Weisheiten herunter zu brechen und das, ohne dass vom Tiefsinn der Vorlage etwas verloren geht.

Dazu gehört in Zürich auch das pointierte Spiel mit dem Theater im Theater, das Strauss und sein kongenialer Librettist in diesem Werk treiben. In der Vorlage gibt das Vorspiel einen quasi-realistischen Einblick in den Theateralltag: Ein Hausherr wünscht, dass die bestellte tragische Ariadne-Oper gleichzeitig mit einer Buffo-Komödie aufgeführt wird und sorgt damit für Eifersüchteleien zwischen den beiden Operntruppen. Die Aufführung der Oper selbst, vom Vorspiel durch die reale Pause getrennt, montiert dann auf witzige und hintergründige Weise beide Sphären zusammen.

Realistisches Vorspiel und komödiantisch aufgemischte Opernmythologie: Regisseur Claus Guth kehrt dieses Verhältnis radikal um. Das Vorspiel findet in Zürich auf scheinbar einfallslos leerer Bühne statt in einer Art künstlicher Laborsituation.

Kein billiger Klamauk

Umso frappanter ist danach die realistische Umdeutung des Ariadne-Stoffs in der täuschend echt nachgebauten «Kronenhalle» (Bühne: Christian Schmidt). Es ist erstaunlich, wie sinnvoll sich die Metaphorik des Werks bis hin zum Schluss auf diese Alltagsszenerie übertragen lässt. Die Vereinsamung am leeren Tisch inmitten geselligen Wirtshaustreibens etwa setzt Zerbinettas Bild von den «wüsten Inseln mitten unter uns Menschen» suggestiv um. Dass die Buffo-Episode mit Zerbinetta nicht für Klamauk verwendet wird, sondern auf die Gefahr einer Vergewaltigung durch eine Männermeute anspielt, zeigt aktuell die Doppelbödigkeit dieser Spassgesellschaft. Und dass der (von Theseus verlassenen) Ariadne der erwartete Mann am Schluss nicht den hier eindringlich beschworenen Tod bringt, sondern eine neue Liebe, fügt sich ganz zwanglos in diese Szenerie ein.

Prädikat vorzüglich

Dies alles wird bis in die Nebenrollen hinein frisch gespielt und vorzüglich gesungen (u.a mit Opernintendant Alexander Pereira in der Sprechrolle des Haushofmeisters und «Kronenhalle»-Gast). Elena Mosuc als koloraturwendige Zerbinetta überrascht durch fluoreszierend aufleuchtende Spitzentöne. Emily Magee macht die Ariadne mit kraftvoll und frei strömendem Sopran zum emotionalen Kraftzentrum des Abends, dem der Tenor Roberto Saccà (Bacchus) zum Schluss zu dramatisch drängender Spannung verhilft. Unter der Leitung von Christoph von Dohnányi spielt das Opernorchester den verschwenderischen Reichtum von Strauss' Partitur in allen Finessen bis hin zum grossen Sinnesrausch aus. Trotz einzelner Buhs vom Premierenpublikum, das nach der irritierenden Nüchternheit des Vorspiels der «Kronenhalle»-Imitation spontanen Applaus zollte, ist diese «Ariadne» bis in kleine Details ein grosser Wurf.