Auch Opern-Frauen haben ein Recht auf freie Gattenwahl

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (14.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

Französisches Opernwochenende: «L’Africaine» in Strassburg, «Les Boréades» in Zürich.

Als die Oper «Les Boréades» von Jean-Philippe Rameau im Herbst 1764 endlich uraufgeführt werden konnte, war der Komponist bereits tot. Hundert Jahre später, 1865, erblickte die Oper «L’Africaine» in Paris das Licht der Opern-Welt. Auch ihr Komponist, der aus Berlin stammende Giacomo Meyerbeer, war zuvor gestorben. Beide französischen Fünfakter werden äusserst selten gespielt und hatten am Freitag und Samstag in Strassburg und Zürich Premiere. Zufall? Zufall. Und kein Grund, die Parallele weiter zu strapazieren.

Spätwerke haben es manchmal in sich. Sie erreichen selten ganz neue Gestade, fügen häufig im Rückblick zusammen, was sich ein Komponistenleben lang angesammelt hat an Erfahrungen. Zum Beispiel mit der «Grand Opéra», dem französischen Operntypus, an dem im mittleren 19. Jahrhundert weder Berlioz noch Wagner oder Verdi vorbeikamen. Meyerbeer, erst preussischer Generalmusikdirektor und dann Grossmeister der französischen Oper, hat in seinem Alterswerk «L’Africaine» noch einmal zusammengebracht, was auf einer Bühne Platz hat: Historie (das kolonialistische Portugal), persönliche Tragödien (die Liebe der «Afrikanerin» Selika zum Eroberer Vasco da Gama), Massenszenen (Matrosen, Soldaten, Wilde), Wind und Wetter.

All dies hat Regisseur Jean-Claude Auvray an der Strassburger Rheinoper zu einer Revue der Effekte zusammengeführt. Am Ende der musikalisch von Edward Gardner geleiteten Produktion muss man mit leisem Bedauern sagen: Viel Theater und viel Aufwand an Kostümen, Bühnenprospekten und an Noten, aber kaum eine nachhaltige Wirkung.

Das Recht aufs Spektakel

Das beginnt durchaus intelligent. Auvray gaukelt uns nichts vor, sondern lässt das Theater Theater bleiben. Der Anfang spielt vor dem geschlossenen Vorhang. Die private Ebene - die Liebe von Ines zum verschollen geglaubten Marineoffizier Vasco - wird abgetrennt von der politischen Sphäre. Diese tritt im zweiten Bild in Erscheinung: Der portugiesische Staatsrat tagt, symbolkräftig rund um eine Erdkugel aufgestellt, und verweigert Vasco die von ihm gewünschte neuerliche Expedition.

Danach fordert die Grand Opéra ihr Recht aufs Spektakel, und die Strassburger Aufführung folgt diesem Imperativ, als wollte sie uns Einblick ins Opern-Empfinden von Anno dazumal geben. Bewegte Bilder von der Seefahrt unter Don Pedros Kommando, ein Sturm, der das Theater ins Wanken zu bringen scheint, der Überfall der Inder auf die portugiesische Flotte, ihre seltsamen Kostüme und befremdlichen Rituale, schliesslich das einsame Verglühen der vermeintlichen Sklavin und wirklichen Königin Selika unter dem todbringenden Manzanillobaum. Die seelischen Innenräume werden von Bühneneffekten erdrückt. Lebendig werden die Figuren allenfalls in den Monologen und Duetten etwa von Selika und Vasco im Gefängnis. Am Ende geht Selika ins Meer, als wäre sie Wagners «Holländer»-Senta.

Oper fällt hier ins Kostüm- und Kulissen-Theater zurück, in technisch unbeholfenes Breitleinwandkino. Es fehlt an präziser Personenführung und im Ballett der Inder an Feinschliff. Dafür wartet die Rheinoper mit Stimmen auf, welche diese schwer zu singende, vertrackte Musik solide umsetzen: allen voran die Frauenrollen der Ines (Nicoleta Ardelean) und Selika (Sylvie Brunet), aber auch der markige Bass von Nicolas Testé in der Partie des Don Pedro und Bojidar Nikolovs kräftiger Vasco-Heldentenor.

Das kolossale Relikt

Jean-Philippe Rameaus letzte Oper «Les Boréades» spielt nicht im historischen, sondern in einem mythischen Raum. Auch hier geht es um eine erzwungene Heirat - die baktrische Königin Alphise muss laut der Tradition einen der Söhne des Nordwind-Gottes Borée heiraten, obwohl sie den Priesterzögling Abaris liebt. Anders als bei Meyerbeer endet die Geschichte mit einem Happy End: Gott Apollo erscheint «ex machina» und outet sich als Vater des Abaris, womit dieser für die Königin heiratsfähig ist.

Es ist ein kolossales Relikt, diese nachgelassene Rameau-Oper mit dem märchenhaften Götterschluss. Man bedenke, dass die Französische Revolution schon an die Tür klopfte - während der Proben zur Uraufführung von «Les Boréades» gab es Streikdrohungen der Tänzer. Auch musikalisch ist «Les Boréades» ein Spätling; zu jener Zeit hatten die Komponisten andernorts den Barockstil überwunden, an dem Rameau mit sympathischer Treue festhielt, noch einmal die alten Tanzsätze und den geschärften Klang der Barockinstrumente auskostend.

Die raffinierte Regie

Das möchte wohl auch das Zürcher Opernhaus, das für solche Zwecke eigens das Barockorchester «La Scintilla» gegründet und den Dirigenten Marc Minkowski engagiert hat. Ein mit heiligem Eifer ans Werk gehender Spezialist, was er unter anderem in der ebenfalls mit Laurent Pelly gestalteten Rameau-«Platée» in Paris und Genf bewiesen hat. An der Premiere haperte es gleichwohl nicht selten mit den Tempi und dem Zusammenspiel, so dass die Aufführung musikalisch etwas unfertig wirkte.

Wunderbare Sänger gaben ihr Bestes: Annick Massis als koloraturensichere Königin Alphise, aber auch die auf amüsant unterschiedliche Weise um sie werbenden Boreaden-Söhne Calisis und Borilée (Tom Allen, Gabriel Bermudez) und der sehr bewegliche hohe Tenor von Richard Croft in der Partie des Wundermannes Abaris.

Laurent Pelly ist als Regisseur ein Garant für unorthodoxes, fantasievolles Musiktheater, das nichts der Routine überlässt. So auch hier: Die Inszenierung steckt voller unerwarteter, raffiniert ausgeleuchteter Details. Die beiden wie Comicfiguren gezeichneten Boreaden-Buhler beschnuppern Alphise, als wären sie kleine Hunde. Ein androgyner Treppen-Amor (Martina Jankova) überreicht Alphise den Pfeil, der das Geschick wenden soll. Die widerspenstige Alphise wird in eine Art Windrad eingesperrt, technisches Sinnbild für den Windgott Boreas (Bühne Chantal Thomas). Und Königin Alphise mit ihrer silbernen Krone muss sich dem Zugriff der Männer immer wieder förmlich entwinden.

Der Reiz der Tänze

Ein Gutteil der Stücke in «Les Boréades» sind Tänze, und man war gespannt, welchen Weg der Choreograf Lionel Hoche wählen würde. Das Ergebnis war eine amüsante Kombination von klassischen Ballettposen und frei erfundenen Bewegungsformen, die keiner feststehenden Grammatik folgen, aber im Ausdruck verständlich und frisch wirken. Seine Tänze wollen nichts bedeuten und beweisen, sie feiern die Musik in ihrer Farbigkeit, Originalität und Spannkraft. Häufig werden die Sänger in den Tanz einbezogen, und dass dies nie lächerlich wirkt, ist eine grosse Leistung des Tanzmeisters.

Es ist Ballett, das im Extrem auch den Stillstand zulässt: Zu einem von köstlichen Fagottklängen begleiteten Tanz im dritten Akt stellen sich die Tänzerinnen und Tänzer wie zu einem Gruppenfoto auf. Keep smiling, please!