Stürme im musikalischen Kosmos

Herbert Büttiker, Der Landbote (14.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

Eine Barockoper, die das Publikum im Sturm erobert. Das ist im Falle der «Boréades» im Opernhaus wörtlich zu nehmen: Die Winde gehören zu den Protagonisten der Oper, für die es stürmischen Beifall gab.

Das Orchester «La Scintilla» des Opernhauses ist gefordert, wenn der Nordwind wütet. Schnelle Läufe in vertrackter Rhythmik sind gefordert, hellwaches Agieren und Reagieren im Wechsel der Instrumentalgruppen. Marc Minkowski geht das alles forsch an, aber nicht aggressiv und scharf, sondern musikantisch furios, dabei weich abgefedert und auf eine Klangfülle bedacht, die ins Elementare geht. Virtuose Bläserarbeit bis hinunter zu den Fagotten ist dank ausgezeichneter Balance omnipräsent, und einzig die Flöten drohen in den wirbelnden Momenten ein wenig verdeckt zu werden. Aber Boreas, der zornige Gott des Nordwindes, hat einen Bruder. Zephir, der Gott des milden Westwindes, inspiriert in der Musik die Gegenmächte. Die Momente zuversichtlicher Harmonie und zeitentrückter Ruhe gehören mit zum Berückenden, was Minkowski und das Orchester aus der Partitur herauslesen, die eben auch eine Partitur über die Musik ist.

Rameaus letztes Werk, das nicht mehr zur Aufführung kam, nachdem der Komponist während der Vorbereitungen am 23. August 1764 gestorben war, gibt vielerlei Rätsel auf, was seine Entstehung betrifft, das Libretto, das dem Freimaurer Louis de Cahusac zugeschrieben wird, das Verschwinden in der Versenkung, aus der es erst 1975 geholt wurde, so dass die Zürcher Koproduktion mit der Opéra de Lyon erst die vierte Inszenierung der «Boréades» überhaupt ist. Es scheint ganz so, dass sich Jean-Philippe Rameau, dieser Theoretiker und Philosoph unter den Komponisten, in seinem letzten Werk ganz bewusst auf die Grundfragen seiner Kunst konzentriert hat: Was ist Musik, was kann Musik? In der Metaphorik der Winde lotet er ihre Tempi, ihr Temperament aus, und zentral visiert er ihr Geheimnis an, wenn er im vierten Akt die Musen als Allegorien auftreten lässt. Die Entrée der Polyhymnia begleitet den Helden – die «Zauberflöte» lässt grüssen – auf seinem gefährlichen Gang ins Reich des Boreas, wo es die entführte Geliebte zu befreien gilt. Eingeschrieben ist ihr ein wunderbarer Moment musikalischer Offenbarung, und vielleicht darf man auch das Lob der Aufführung und den Geist, in dem sie nachklingt, in diesem Wort zusammenfassen: Offenbarung, an die Marc Minkowski zusammen mit dem Team Laurent Pelly (Inszenierung und Kostüme) Chantal Thomas (Bühnenbild) und Joël Adam (Lichtgestaltung) in dieser zentralen Szene heranführt.

Barocktheater und Aufklärung

Dass solches gelingt, hat damit zu tun, dass die Inszenierung Rameaus Mythologie ernst nimmt und sie gleichzeitig so vereinfacht und konzentriert, dass die Bühne frei bleibt für die Musik und ihre elementaren Wirkungen. Die Geschichte, die es zu erzählen gilt, ist einfach genug: Die Königin Alphise müsste einen der Söhne des Boreas zum Mann nehmen, so will es das Gesetz. Sie weigert sich, weil sie Abaris liebt, den unbekannten Zögling des Priesters, und wird von Boreas gewaltsam entführt. Abaris kann dank Amors Zauberpfeil den Sturmgott ausser Gefecht setzen, den Konflikt aber löst Apollo mit der Mitteilung, Abaris sei sein Sohn, den er mit einer von Boreas' Nymphen gezeugt habe. Damit ist der dynastischen Forderung Genüge getan, die Liebe, die sich bewährt hat, triumphiert, und das Licht der Aufklärung (Apollo!) leuchtet.

In der einfachen Handlung schafft das Libretto die Gelegenheit zu grösserem Schaugepränge durch die Sturmszenerie und durch allegorische Ballette. Es ist bemerkenswert, dass das Personal der mythologischen Handlung sogar selber ein wiederum mythologisches Ballett aufführen lässt. Theater im Theater: Calisis und Borilée, die beiden Söhne des Boreas und Freier der Alphise, richten mit der Szene der «Entführung der Oreithyia» eine letzte Warnung an die widerspenstige Königin. Angesichts solcher Wucherungen des Barocktheaters reagiert die Inszenierung mit einer gewissen Kargheit, mit dem Luxus der einfachen Formen und Farben (Kostüme!), aber auch mit feinem Augenzwinkern: Im fünften Akt überspielt sie mit Boreas' Propeller-Ungetüm und Apollos umqualmter Herabkunft aus dem Schnürboden die Grenzen von Götter- und Fantasy-Welt, ohne den Ernst des Stückes damit zu gefährden.

Ballett des Bühnenbildes

Der Verzicht auf die original barocke Bilderfülle zeigt sich auch darin, dass viele Ballettmusik rein «sinfonisch» interpretiert wird. Der «Tanz» der Bühnenskulptur mit ihrem Farbenspiel und den Wetterprojektionen auf ihren grossflächigen beweglichen Elementen scheint hier das allegorische Ballett weit gehend zu ersetzen, und wo es dennoch einbezogen ist (Choreografie: Lionel Hoch), gehört es in seiner verhuschten Körpersprache wohl nicht zum Überzeugendsten der Aufführung, vielleicht allein schon deshalb, weil das breithüftige Barockkostüm der Tänzerinnen das moderne Bewegungsrepertoire allzu sehr ins Groteske ausformt.

In einem grundsätzlicheren Sinn ist die Inszenierung freilich gründlicher vom Tanz geprägt, als man es erwartet: in der Bewegungssprache der Protagonisten, der Protagonistin zumal. Annick Massis in der Rolle der Alphise ist geradezu ein Phänomen, was die mühelose und scheinbar natürliche Verbindung schwieriger Gesangsexkursionen und eines anmutig-gelösten Spiels betrifft. Als choreografisch geformt und so dem Geist der französischen Barockoper nah erlebt man auch die weiteren Handlungsträger, insgesamt ein musikalisch und spielerisch höchst agiles Ensemble, das alte Dogmen historischer Aufführungspraxis hinter sich gelassen hat und wenig Wünsche offen lässt.

Als Alphises Partner Abaris gibt Richard Croft sein Bestes allerdings mit der beachtlichen Verve seines Tenors, mit dem schwebenden Klang seines Mezzavoce zumal in den lyrisch verinnerlichten Momenten. Hingegen gewinnen die beiden Boreaden, Tom Allen als Calisis und Gabriel Bermudéz als Borilée sowie Borée selbst (François Lis) ihr Profil ganz aus dem sängerisch-darstellerischen Impuls – und aus der Maske: Alles arbeitet gekonnt darauf hin, die egozentrischen Göttersöhne zwischen Dämonie und Groteske in der Schwebe zu lassen. Mit episodischen Auftritten setzen Elena Mosuc (Sémire/Nymphe) und von Martina Jankova (L’Amour/Polymnie) helle Glanzlichter ins szenische wie musikalische Bild, und Jean-Sebastien Bou sichert dem Priester Adamas wie Apollo die Würde, auch wenn er vielleicht in den tiefen Tönen zu büssen hat, was den hohen Stimmen zugute kommt: dass Minkowski das Orchester um einen ganzen Ton tiefer gestimmt hat als das moderne Orchester.

Apotheose der Musik

Einen wesentlichen Beitrag im musikalischen Kosmos steuert mit Bravour auch der Chor bei, zumal zum dramatischen Höhepunkt des Werks mit Sturmmusik und Schreckenschor im Übergang vom 3. zum 4. Akt. Man hört ihn mit «Idomeneo» im Ohr und staunt, wie weit Rameaus bewegliches Formenspiel gekommen ist, das die Grenzen zwischen Arienformen und Rezitativ, Instrumental-, Tanz- und Chortableau verwischt und dabei doch weniger das Drama als – wie jetzt auch diese Premiere in ihrem enthusiastischen Musizieren nahe legt – die Apotheose der Musik im Sinne hatte.