Rameau und die Wucht des Temperaments

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (14.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

«Les Boréades» im Opernhaus Zürich

Wild geht es zu in der Geschichte von Boreas, dem Nordwind, der einen seiner beiden Söhne mit der schönen Alphise verheiraten möchte, damit aber scheitert, weil die Beglückte schon einen anderen gewählt hat und unerbittlich bleibt. Ohne Blatt vor dem Mund wird hier der absolute Machtanspruch des Herrschers kritisiert, und laut werden die Vorzüge der Freiheit gepriesen. Das mochte 1763, als die Pariser Oper «Les Boréades» von, vermutlich, Louis de Cahusac und Jean-Philippe Rameau in Arbeit nahm, nicht nach jedermanns Geschmack gewesen sein. Als der Komponist 1764, achtzig Jahre alt, sehr berühmt, aber nicht ganz unumstritten, überraschend starb, wurde das Stück jedenfalls sogleich abgesetzt. Es verschwand in den Archiven und kam erst gut zweihundert Jahre später zur Uraufführung: in einer von John Eliot Gardiner dirigierten Produktion des Festivals von Aix-en-Provence im Sommer 1982.

Tiefe Stimmung, hohe Temperatur

Wild geht es auch zu bei der jüngsten Inszenierung von «Les Boréades», wie sie das Opernhaus Zürich bietet. Der Dirigent Marc Minkowski setzt klar auf Tempo, und das hat mitunter seine Nachteile. Schon in der Ouverture ist zu hören, wie das Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich an die Grenzen gerät; die Hörner haben Mühe, zu Ton zu kommen, und die Sechzehntel-Läufe des Nordwinds in den Geigen werden zu Glissandi. Auch sonst manifestiert sich einige Grobheit; auch wenn klar zu verfolgen ist, welch besondere Rollen die Klarinetten und die Fagotte in dieser Partitur einnehmen, wirkt der Klang doch sehr auf die Aussenstimmen fokussiert. Auch die Contredanse am Schluss des ersten Akts nimmt Minkowski so schnell, dass der Reiz der rhythmischen Gegenläufigkeit unterbelichtet bleibt.

Immerhin sind bis hierhin schon eindrückliche sängerische Leistungen zu verzeichnen. In der zentralen Partie der standhaften Königin Alphise gibt Annick Massis zu erkennen, dass sie das Repertoire der Verzierungen beherrscht; zudem operiert sie mit einer reich bestückten Palette an Farben und einigem Liebreiz. Von den beiden Söhnen des Nordwinds darf sich Calisis in der besseren Position fühlen, weil Tom Allen den Anforderungen, die an einen französischen Tenor, an einen Haute-Contre, gestellt sind, blendend meistert, während der Bariton Gabriel Bermúdez als Borilée einförmiger wirkt. Bald erscheint nun aber Abaris, der geheimnisvolle Fremde, den die Königin liebt, und da schlägt die Stunde von Tom Allen, der Kraft und Schmelz verströmt. Edel Jean-Sébastien Bou in der Rolle des Hohepriesters Adamas, mit ihrem beträchtlichen Vibrato stilfremd dagegen Elena Mouc als Sémire, Dienerin und Vertraute der Königin.

Unterdessen spitzt sich die Lage zu. Das Junior-Ballett des Opernhauses, von Lionel Hoche angeleitet, tanzt sich dekorativ und dementsprechend unverbindlich durch die musikalisch anspruchsvollen Divertissements, der von Jürg Hämmerli einstudierte Chor lobt die Charakterfestigkeit der Königin - doch dann bricht der Gewittersturm aus, der alles durcheinander bringt. Auch die Musik, denn in diesen Momenten legt der Dirigent, heftig um sich schlagend, den Ausdruck ganz auf die Entfesselung der Kräfte an. Das hat zur Folge, dass sich bei der «Suite des vents» weder Farbe noch Form in ihrem Raffinement wahrnehmen lassen, dass aber auch insgesamt eine Pauschalität ins Musizieren kommt, die wenig später ihre Folgen hat. Das schönste Stück dieser von musikalischen Schönheiten überreichen Oper, der Auftritt der Muse Polyhymnia (Martina Janková), gerät nämlich blass, weil die Spannungen im Inneren der einzelnen Stimmen wie jene zwischen ihnen zu wenig ausgearbeitet sind. So erstaunt auch nicht, dass der Bariton François Lis, wenn am Ende Borée in Person auftritt, so dröhnt, als wäre er Boris Godunow.

Eine Windmaschine

Seltsam auch, dass im fünften Akt, den Rameau durch ein verrücktes, stockendes Vorspiel einleitet, die von Chantal Thomas erdachte Szenerie mit einem Mal ganz konkret wird. Bis dahin waren es gebogene Wandelemente, die im Vordergrund standen; sie wurden von den Darstellern wie beiläufig, manchmal aber mit sichtbarem Kraftaufwand in neue Konstellationen geschoben und dienten auch als Projektionsfläche für Videosequenzen (Charles Carcopino) mit Wolkenbildern. Die Welt des Boreas wird nun aber von einem gewaltigen Propeller dominiert, in den die entführte Königin Alphise gesperrt wird - bis der Deus ex machina erscheint und das glückliche Ende einleitet. Auch das geschieht so harmlos und beiläufig, wie sich die Inszenierung von Laurent Pelly überhaupt gibt. Welche Brisanz in «Les Boréades» steckt, wie diese späte Blüte der Tragédie lyrique zur Geschichte der Gattung und zu den stilistischen Strömungen um 1760 steht - nichts davon spricht der französische Regisseur (und Kostümbildner) in dieser für Lyon und Zürich gemeinsam entworfenen Inszenierung an. Wie das Stück wirken kann, das war 1999 bei den Salzburger Pfingstfestspielen (mit Simon Rattle und den Herrmanns) oder letztes Jahr im Pariser Palais Garnier (mit William Christie und dem Choreografen Edouard Lock) zu erleben; damit lässt sich die wenig inspirierte und unsorgfältig ausgearbeitete Zürcher Produktion allerdings auf keiner Ebene vergleichen.