Kühl im Nordwind

Verena Naegele, St. Galler Tagblatt (15.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

Mit Dirigent Marc Minkowski und Regisseur Laurent Pelly hat Zürich ein Dreamteam für Rameaus «Les Boréades» gefunden - begeisternd wurde der Abend trotzdem nicht.

Die Handlung ist - zumal für eine Barockoper - schnörkellos. Alphise, Herrscherin Bakriens, darf laut Tradition nur einen Sohn des Nordwind-Gottes Boreas heiraten. Doch sie liebt mit Abaris einen anderen und verzichtet lieber auf den Thron, als dem Göttergebot zu folgen. Trotz der Rache von Boreas hält sie an ihrem Entschluss fest. Nach der Zerstörung durch die Naturgewalten leitet dann das Geständnis Apollos die Befreiung ein: Abaris ist der Sohn einer Boreas-Nymphe.

Es ist ein Libretto, das Rameaus Zeichnungslust im Rezitativischen wie in Arien und Szenen so richtig anstachelt: Das Brausen von Wind und Wellen mittels Windmaschine oder rasend schnellen Tonrepetitionen, eine ausgefeilte Affektkunst, ein farbenprächtiges Orchester mit dem raffinierten und witzigen Einsatz der Bläsergruppe, dies sind die Qualitäten des Stücks. Die Musik steht im Mittelpunkt - macht aber gerade deshalb der Szene das Leben schwer.

Auf Menschenmass

Laurent Pelly, der sich mit frechen Inszenierungen einen Namen gemacht hat, vertraut zu sehr der Magie der Musik unter Marc Minkowskis virtuoser Stabführung. Das Grundproblem seiner Regie ist die Aufhebung der Dualität zwischen Götter- und Menschenwelt. Rameau verzichtet auf den üblichen Prolog zur Exposition der Göttergesetze, und Pelly nimmt dies in sein optisches Konzept auf. So herrscht einzig das kühle Reich der Götter-Nordwindwelt durch die Farben Blau und Grün, die sich von den Kostümen über die riesigen Rundwände bis zur Beleuchtung ziehen. Die Grosszügigkeit der Bühne ist gekoppelt mit grossen Gesten, entsprechend der allegorischen Dimension barocken Denkens. Affekte werden durch die auf Veräusserlichung von Regungen abzielenden, abstrakten Tänze (Choreographie Lionel Hoche) dargestellt oder der Musik überlassen. Das Team wagt gar, orchestrale (Tanz-)Intermezzi als Standbilder einzufrieren.

Durchhänger waren so trotz stimmiger Momente unvermeidlich und wurden von der musikalischen Interpretation nicht ganz wettgemacht.

Tief dunkel gefärbt

Dies mag mit der Stimmung von 392 Hz zusammenhängen: einen Ganzton tiefer und gewöhnungsbedürftig. Orchester und Ensemble kamen unterschiedlich damit zurecht. Nach einer verpfuschten Ouvertüre steigerte sich das Orchester «La Scintilla» merklich, konnte aber wie die Sänger gewisse Mühen mit der dunklen Färbung nicht überspielen. Herausragend, brillant und geschmeidig sangen Elena Mosuc (in Nebenrollen) und Richard Croft (Abaris). Annick Massis (Alphise) begeisterte mit stupender Agilität, die sie in ihrer Kampf-Arie mit Blitz und Donner einbrachte, während die beiden Boreas-Söhne Tom Allen und Gabriel Bermudez stimmlich unausgeglichen waren - Rameaus Primat des Harmonischen bestraft jede Intonationstrübung und betört nicht mit süssem Melos. Erstaunlich stilsicher wirkte der Chor. Marc Minkowski riss mit seinem Feuer, seiner Klarheit in der rhythmisch diffizilen Partitur den Abend heraus.