arc Minkowskis Zürcher Sternstunde

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (14.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

Mit «Les Indes Galantes» vorige Saison hatte das Opernhaus Zürich schon einmal eine Oper von Jean-Philippe Rameau erfolgreich auf die Bühne gebracht. Jetzt wurde «Les Boréades» zur Sternstunde.

Laurent Pelly, Marc Minkowski und Rameau, diese Kombination ist untrennbar verknüpft mit jener umwerfend komischen Pariser «Platée»-Inszenierung, die in halb Europa für Furore sorgte. Wer nun diese Zürcher Inszenierung sieht, würde nicht auf Pelly tippen, sondern hin und wieder sogar eher auf Robert Wilsons typische Körpersprache.

Aber nur hin und wieder. Pelly pflegt zwar einen für ihn ungewohnt abstrakten, ästhetischen Stil, ist aber Theatermensch genug, um die szenischen Aktionen dieses Stücks nicht zu verschenken, das mit seiner antiken Geschichte von verwöhnten Göttersöhnen, Machtmissbrauch und der Kraft der Liebe eigentlich jede Menge Stoff für gezielte Aktualisierungen liefern würde. Die beiden Boreaden werben um die Königin Alphise, werden zurückgewiesen, rächen sich mit Hilfe ihres windgewaltigen Vaters Boreas. Sie werden jedoch von Abaris und einem magischen Pfeil Amors bezwungen, und schliesslich stellt in gutbarocker Manier Apollo als Deus ex Machina die Ordnung wieder her.

Dreh- und Angelpunkt von Pellys Inszenierung ist eine fulminante «Sturm»-Szene. Pelly und seine Bühnenbildnerin Chantal Thomas haben dafür die mehrfach geteilte Drehbühne mit gigantischen runden Schalen, die von ferne an den Plastiker Richard Serra erinnern, ausstaffiert und lassen mit Hilfe einiger williger Bühnen-Geister diese Elemente einen virtuosen, verschlungenen Tanz aufführen, der alle räumlichen Grenzen aufhebt. Zugleich dienen diese Schalen als Projektionsflächen für die Videos von Charles Carcopino, die dezent atmosphärische Elemente zeigen. Ästhetisierung pur also auf der Bühne und bei den Kostümen, für die ebenfalls der kreative Franzose sorgte, und eine moderne Version des Bühnenmaschinen-Theaters, das die Barockzeit so liebte.

Dieser Devise folgt auch die Personenregie. Zwar sorgte Pelly durchaus für viel Aktion - nicht zuletzt oft und gerne mit dem beachtlichen Junior Ballett des Opernhauses - aber die Szenen zielten nicht auf realistische Handlungen, sondern eher auf typisierte, ins Allgemeine erhobene Situationen.

Die Musik im Zentrum

Im Grunde aber stand die Musik im Zentrum dieser Produktion. Musik heisst in diesem Fall nicht wie in der Barockoper italienischer Prägung sängerische Bravour mit instrumentaler Stütze, sondern orchestrale Klangfarben und harmonische Raffinesse. Da gab es lange Passagen, in welchen die Bühne völlig zurücktrat, um atemlos zwei akrobatischen Fagotten zuzuhören, oder erstarrte vor der Virtuosität der Traversflöten und den fast ständig geforderten Streichern oder andächtig den Atem anhielt über die überirdisch schönen Klangfarben gedämpfter Bratschen-Bläser-Kombinationen. Es war fast so, als könne selbst die Inszenierung nicht glauben, was hier an musikalischem Reichtum zum Vorschein kam.

Und das allein ist nichts, wenn man nicht den Magier Minkowski hat, der aus der Partitur zusammen mit einem sehr engagierten Orchester - die Barock-Formation «La Scintilla» des Opernorchesters bewies einmal mehr ihre Klasse - diese Klänge und Harmonien zum Leben erwecken kann. Ein Magier, der ein Piano hervorbringt, das diesen Namen wirklich verdient, der Spannungsbögen bezwingend natürlich gestaltet und auf kleinem Raum differenziert, quasi wie aus dem Moment heraus musiziert. Ein Magier, der Rameaus klangsinnliche Orchesterfarben in aller Pracht zum Blühen bringt, und der die schmerzliche Schönheit dieser harmonisch raffinierten Vorhaltsketten geniesserisch bis zur Neige auskosten kann.

Verehrer und Verächter

Dabei war längst nicht alles perfekt an dieser Premiere, im Gegenteil, trotz der offensichtlich engagierten Vorbereitung liefen kleinere Pannen von den Jagdhörnern der Ouvertüre (zugegeben, das grenzt ans spieltechnisch Unmögliche) bis zu Abaris' Schluss-Arie wie ein roter Faden durch den Abend und zeugten von den enormen Schwierigkeiten dieser Partitur. Ausgenommen davon waren einige Sänger wie Annick Massis, die als Königin Alphise zum leuchtenden Stimmenstern des Abends wurde. Herauszuheben wären weiter der Tenor Tom Allen als Calisis, einer der Boreaden, Richard Croft als strahlender Held Abaris, aber auch François Lis in der Rolle des Boreas.

Man möge es mir bitte verzeihen, dass diese Kritik ganz ohne kritischen Gedanken auskommt. Es soll Leute geben, die mit Rameaus Musik nichts anfangen können, und die nach einer gähnend verbrachten ersten Hälfte das Haus verlassen haben. Wie die Opern von Wagner soll auch diese Musik polarisieren in glühende Verehrer und wütende Verächter. Zu welcher Gruppe Sie, liebe Leser, gehören, können Sie nun mit minimalem Aufwand herausfinden: Wenn Ihnen diese Produktion nicht gefällt, dann wird Ihnen keine gefallen. Besser werden Sie Rameau nirgends hören. Höchstens gleich gut, und das immer dann, wenn der Name Minkowski draufsteht.