Im Sog oder Amor gegen Ventilator

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (14.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

Musikalisch spritzig, aber optisch etwas gar kühl: Marc Minkowski und Laurent Pelly zeigen Rameaus «Les Boréades» im Zürcher Opernhaus.

Es gab viele Gründe für Vorfreude vor dieser Premiere. Jean-Philippe Rameaus «Platée» etwa, die der französische Regisseur Laurent Pelly mit viel Witz, Musikalität und poetisch-skurriler Fantasie auf die Bühnen von Paris und Genf gebracht hatte. Oder die Tatsache, dass Pelly und der Dirigent Marc Minkowski nicht nur bei dieser «Platée» als inspiriertes Team aufgefallen waren. Und schliesslich das Stück selbst: Wie witzig, musikalisch und fantasievoll Rameaus tragédie lyrique «Les Boréades» gespielt werden kann, hatten vor fünf Jahren Ursel und Karl-Ernst Herrmann zusammen mit Simon Rattle in einer umwerfenden Salzburger Produktion vorgeführt.

Ein Gott wie aus dem Musical

Eine Selbstverständlichkeit war diese Salzburger Sternstunde nicht. Denn eigentlich ist die Geschichte der Königin Alphise, die einen der Söhne des Windgottes Boreas heiraten soll und statt dessen ganz unstandesgemäss Abaris liebt, nicht besonders aufregend. Die vielen Tanzsätze können einen Regisseur zur Verzweiflung bringen (und haben schon manchen an Rameau scheitern lassen). Und der subversive Geist der Handlung, der (vielleicht) dafür verantwortlich war, dass dieses letzte Rameau-Werk nach dem Tod des Komponisten 1764 und für gut zwei Jahrhunderte in den Schubladen verschwand, lässt sich heute kaum noch aufspüren.

Wer das Stück neu beleben will, braucht deshalb überdurchschnittlich gute und viele Ideen. Pelly - erst der vierte Regisseur, der sich «Les Boréades» vorgenommen hat - hatte erstaunlich wenige für diese Koproduktion von Lyon und Zürich. Vor allem sind sie schlecht verteilt: Die zentrale Trouvaille kommt eine halbe Stunde vor Schluss, wenn Boreas Alphise in einen riesigen Ventilator sperrt. Erlöst wird sie von einem futuristisch grün glänzenden Apollo, der als eine Art Deus ex Musical die boreadische Herkunft des Abaris und damit die Legitimität ihrer Liebe verkündet. Zu spät, um den Stilbruch noch als Prinzip etablieren zu können.

Trockenschwimmende Tänzer

Davor hat man Alphise gut zwei Stunden händeringend die Avancen von Boreas Söhnen abwehren sehen; man hat den hin- und herschreitenden Protagonisten nachgeschaut und das Scheitern eines poetischen Versuches miterlebt, bei dem sich Ballone im Tanz verhedderten. Kühl und ernst wirkte das alles: die verschiebbaren, halb rund designten Wände (Chantal Thomas) ebenso wie die dezent schimmernden, farblich geschmackvoll assortierten Reifröcke und Mäntel (Pelly). Von der Dekadenz dieser göttlichen Spassgesellschaft, die Alphise so sehr auf die Nerven geht, war, abgesehen von der etwas extravaganten Schminke ihrer Verehrer, nicht viel zu sehen.

Zwar hat dieses Bühnengeschehen durchaus musikalische Qualitäten (und das ist mehr, als man von vielen Inszenierungen sagen kann); aber für Witz und Fantasie sind diesmal vor allem Marc Minkowski und der Choreograf Lionel Hoche zuständig. Sie schöpfen dafür aus dem Vollen: Schon in der Ouvertüre wird klar, welchen Sog ein temperamentvoller Dirigent aus den kurzen und sehr kurzen Stücken dieses Werks entwickeln kann. Und wenn die Tänzerinnen und Tänzer vom Junior Ballett des Zürcher Opernhauses die Beine per Handarbeit umstellen, wenn sie trockenschwimmend oder kopfknickend über die Bühne torkeln, berührungsfrei übereinander herfallen oder wie mit gekappten Fäden in sich zusammensinken, dann tun sie das in perfekter Entsprechung zu den musikalischen Stimmungen.

Auch wenn diese Tänze nicht so recht mit der Handlung verschmelzen: Durch die Symbiose mit der Musik gehen sie weit übers Dekorative hinaus. Umgekehrt ist die Musik nicht nur Begleitung, sondern das eigentliche Energiezentrum der Aufführung. Tänzerisch, ausgelassen, mit teils irrwitzigen Tempi und körperhaftem Klang spielt das Ensemble La Scintilla, und einmal mehr zeigt sich die erstaunliche technische und stilistische Kompetenz der operneigenen Barockformation, die ja nur «nebenher» historische Instrumente bedient. Wie die Fagottisten ihren wohl exponiertesten Einsatz in der Opernliteratur bewältigen, wie in der Sturmszene der Wind durch die Flöten pfeift und die Streicher durch die Partitur fegen: Das ist gestisch so präzis, dass Minkowksi auf die perfekte Synchronie zwischen den Instrumenten zuweilen verzichten kann. Auch darin trifft sich die Musik mit dem Tanz, und das Resultat ist überwältigend lebendig.

Die Sängerinnen und Sänger profitieren von diesem Schwung (und durchaus auch davon, dass die Regie sie weit gehend in Ruhe lässt): Annick Massis, die als Alphise ein hinreissendes Zürcher Debüt hat, liebt und leidet mit leichtem, quecksilbrigem Sopran.

Dass Abaris ihr Auserwählter ist, erstaunt nicht; Richard Crofts warmer, höhensicherer Tenor passt exakt zu ihr und zu Rameaus Musik. Von den beiden erfolglosen Verehrern hätte sich wohl Tom Allen die besseren Chancen ausrechnen können: Hell, kräftig und ziemlich schmierig singt der Tenor - und damit überzeugender als sein ebenfalls beweglicher, aber spröderer baritonaler Konkurrent Gabriel Bermúdez.

Melancholischer Triumph

Kurze, aber starke Auftritte haben zudem Martina Janková als Amor und François Lis als Boreas: In der Geschichte siegt der Gott der Liebe über jenen der Winde, vokal sind sich die beiden ebenbürtig. Glockenhell singt sie, mit imposant bösem Bass er, und dass die Liebenden ziemlich erschüttert aus diesem göttlichen Duell hervorgehen, lässt sich nachvollziehen. Nie ist eine nach vielen Schwierigkeiten möglich gewordene Liebe schwermütiger besungen worden als in diesem Stück; wo der Text von Überschwang und Glück und Triumph redet, versinken die Töne in tiefer Melancholie.

Da zumindest ist Rameaus Subversivität noch spürbar: Die Wiederherstellung der sozialen Ordnung wird keineswegs euphorisch begrüsst, der Komponist verweigert sich dem Jubel des mutmasslichen Librettisten Louis de Cahusac. Und der rauschhafte Tanz nach diesem Duett wirkt nun tatsächlich richtig dekadent.