Aufwändig inszenierte Liebesallegorie

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (14.06.2004)

Les Boréades, 12.06.2004, Zürich

Premiere von Jean-Philippe Rameaus «Les Boréades» im Opernhaus Zürich

Am Samstagabend inszenierte, erstmalig in diesem Haus, der französische Regisseur Laurent Pelly im Opernhaus Jean-Philippe Rameaus letzte Oper «Les Boréades». Musikalisch intensive Momente wechselten sich in der mit Chor und Ballett üppig ausgestatteten Barockoper ab mit sanftem Dahinplätschern - eine nicht auf der ganzen Linie überzeugende Produktion.
Der französische Barock hatte es neben dem italienischen immer schon schwer. Jean-Philippe Rameau, der in erster Linie als epochemachender Musiktheoretiker in die Musikgeschichte einging, hat sich im so genannten «Buffonistenstreit» zwar für Neuerungen in der französischen Oper eingesetzt, wehrte sich aber gegen den Einfluss des italienischen Stils.
«Les Boréades», seine letzte Oper, ist wie ein Resumee seiner französisch nationalen und harmonischen Errungenschaften. Die aufwändige Zürcher Inszenierung mit Mark Minkowski am Dirigentenpult und Regisseur Laurent Pelly hat, um es vorwegzunehmen, einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen.

Antik-mythologischer Stoff

Zu Rameaus Lebzeiten wurde dieses dreieinhalbstündige, mit Chor und Ballett üppig ausgestattete Werk nicht uraufgeführt. Die Wiederentdeckung des Komponisten Rameau geht einerseits auf die «Édition Stil» zurück, die sich um Neueditionen französischer Barockmusik sehr verdient gemacht hat. Für die erste Aufführung des Werks sorgte aber erst in den 1970er Jahren John Eliot Gardiner in London.

Die Geschichte ist simpel und abstrakt, eine Allegorie der Liebe. Alphise sollte sich nach alter Sitte mit einem Herrscher aus dem Geschlecht der Boréaden vermählen. Sie aber hat sich in Abaris verliebt, dessen Herkunft niemand kennt, und ist bereit, für diese Liebe auf den Thron zu verzichten. Das nimmt ihr der böse Nordwind-Gott übel: Er verwüstet das Land und entführt Alphise, um sie zu martern und zur Heirat mit einem Boréaden zu zwingen. Abaris findet seine Geliebte jedoch und bezwingt die bösen Mächte. Da kommt Apollon, der Gott des Lichtes, und verkündet, dass Abaris sein Sohn sei, den er mit einer Nymphe aus dem Geschlecht der Boréaden gezeugt habe. Die Herkunft ist also in Ordnung, der Liebesheirat steht nichts mehr im Wege.

In nüchternem Rahmen

Der französische Königshof liebte die pompöse Ausstattung der Oper, das Ballett und szenische Effekte. Laurent Pelly entzieht sich in Zürich dieser Tradition, indem er die Figuren in ein nüchternes, grau-blaues Bühnenbild mit verschieb- und drehbaren Wänden stellt. Darauf sorgt ein subtil eingesetztes Video-Lichtspiel (Charles Carcopino) für naturalistische Wasser- und Wind-Effekte. Die Bühne wirkt dadurch aber auch sehr kahl, und die sich eröffnenden Gänge werden kaum bespielt. Der Raum ist für das geschickt ins Geschehen integrierte Ballett da (Choreographie Lionel Hoche), welches in lichten, aber doch auch die Bewegung behindernden höfischen Ringröcken und Schleppmänteln modern und ausdrucksstark tanzt.

Ungewohnt tiefe Stimmung

Für die Sängerinnen und Sänger bietet Rameau, der die Harmonie deutlich über die Melodie stellte, wenig ariose Entfaltungsmöglichkeit. Sie singen in einem parlandohaften Stil und sind in den Orchestersatz eingewoben. Das auf historischen Instrumenten spielende und hochgefahrene Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich bekundete jedoch einige Mühe, sich mit der zu Rameaus Zeit üblichen, heute auch für die authentische Musizierpraxis ungewohnt tiefen Stimmung von 392 Herz zurechtzufinden. Das ist ein ganzer Ton tiefer als die moderne Stimmung, und noch tiefer als die historischen Instrumente sonst schon gestimmt werden. Dies hatte einen gewöhnungsbedürftigen, recht dumpfen Klang zur Folge, und der Basso continuo wirkte noch sonorer und dominanter als sonst.

Aber nicht nur die eigenartige Stimmung wirkte anfangs verunsichernd. Die Ouvertüre mit den beiden falsch intonierten Naturhörnern fiel auch rhythmisch fast auseinander. Doch Mark Minkowski liess sich nicht beirren, zelebrierte mit seiner beredten Schlagtechnik eine wunderbare tänzerische Schwebe und zwang die heftigen Stürme in rasende Tempi. Mit viel Sinn für instrumentale Effekte liess er die Fagotte brummen und schnattern, um andererseits die Stimmen mit anschmiegsam weichem Ton zu umgarnen, vor allem die der Liebenden.

Mit lyrischer Intensität

Annick Massis stellte sich der Titelpartie mit brillanter stimmlicher Agilität. Ihre erste grosse Arie, in der sie die Tragik ihrer «verkehrten» Liebe mit Blitz und Donner ausficht, meisterte sie mit bravouröser Dramatik. Wirkte sie danach stimmlich insgesamt auch etwas blass, so fand sie in den zarten Liebesduetten mit Richard Croft doch immer wieder zu bewegender lyrischer Intensität. Croft dagegen sang mit Herzblut, schlicht und doch risikofreudig im Ausdruck und im Ringen um die Liebe. Stark zu prägen vermochte auch Helena Mosuc mit ihrer hellen vitalen Sopranstimme, obwohl sie nur die kleinen Rollen als Sémire und Nymphe sang. Gar gleichförmig buhlte hingegen Tom Allen als einer der Boréaden-Liebhaber um die Gunst der Alphise, während sein Konkurrent Gabriel Bermúdez stimmlich eher eng und etwas gehemmt wirkte. Gab Jean-Sébastien Bou einen angenehmen Hohepriester Adamas, so hatte der «schwarze» Bass François Lis als furioser Borée-Gott einen stimmlich wie szenisch beeindruckenden Auftritt.

Insgesamt bewegte sich dieser lange Abend zwischen musikalisch intensiven Momenten (vor allem mit der erstaunlichen Leuchtkraft des Chores) und sängerischem Dahinplätschern, unterhaltsamen Effekten und Langeweile. Ob sich für dieses Werk Aufwand und Ertrag die Waagschale halten, bleibt fraglich.