Schöpfertum als Willensakt

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Ferruccio Busonis «Doktor Faust» im Zürcher Opernhaus

Nach dem vergnüglichen, leichtgewichtigen Einakterabend mit Wolf-Ferraris «Segreto di Susanna» und Puccinis «Gianni Schicchi» wird im Zürcher Opernhaus jetzt wieder schwere Kost geboten. Ferruccio Busonis «Doktor Faust», komponiert zu wesentlichen Teilen während seiner Zürcher Jahre (1915 bis 1920), ist ein Werk von hohem intellektuellem Anspruch. In bewusster Abgrenzung vom übermächtigen Goethe hat Busoni seiner «Dichtung für Musik» das aus dem Volksstück entstandene Puppenspiel zugrunde gelegt. Doch einfacher ist der Stoff dabei nicht geworden.

Autobiografische Züge

Busonis Faust weist manche autobiografischen Züge seines Schöpfers auf - der Komponist war auch sein eigener Librettist -, er ist ein «ewiger Wille», ein Suchender, der nach Vollkommenheit strebt, ein Magier, der die Herzogin von Parma an ihrem Hochzeitstag entführt und bald darauf verlässt, ein Schönheitstrunkener, der sein Ideal in der Erscheinung der Helena zu erhaschen glaubt, ein scheiternder Schöpfer, der sein Leben einem Jüngling vermacht, auf dass es fortwirke bis zu den letzten Geschlechtern. Die Musik, die Busoni zu seiner Dichtung geschrieben hat, ist nicht weniger komplex und vielschichtig als die Ideenwelt, für die Faust steht.

Doch die Zürcher Neuinszenierung - die erste seit 1972, wie damals mit dem von Philipp Jarnach nachkomponierten Schluss - erleichtert einem den Zugang, indem sie das Werk betont sinnlich und opernhaft aufbereitet. Die Vorrede wie der Epilog des Dichters sind gestrichen, ebenso die Szene Wagners und der Studenten am Ende. Den optischen Eindruck bestimmen die Bühnenbilder des spanischen Malers Eduardo Arroyo und die Kostüme Eva Desseckers, während sich die Regie von Klaus Michael Grüber auf das konventionelle Arrangieren von Bewegungsabläufen und Gruppenbildern beschränkt.

Üppig hat Arroyo die Bühne dekoriert: im ersten Teil, in Fausts Studierstube, mit Regalen voller bunter Flaschen und Gläser, am Herzogshof von Parma mit prunkvollen Kronleuchtern, in deren Licht Desseckers Kostüme besonders phantastisch wirken, im zweiten Teil mit neuen Regalen, auf denen der gesamte Requisitenfundus des Theaters gestapelt zu sein scheint. Dass zu Beginn die drei gesichtslosen Studenten aus Krakau Faust statt des Zauberbuches totemartige Figuren überreichen und die Flammen sich zu sonderbaren schwebenden Objekten verdinglichen, scheint eine - durchaus werkentsprechende - Brechung und Verfremdung der Bühnenvorgänge anzuzeigen. Doch die banale, illusionistische Beschwörung der alttestamentlichen Liebespaare durch Faust wie später auch die textgetreue Präsentation des toten Kindes, das Faust mit der Herzogin gezeugt hat, enttäuschen solche Erwartungen. Insgesamt bleiben Arroyos Szenerien statisch, spannungslos, mehr Bilder als Räume.

Die Titelfigur und ihr Schatten

So fokussiert sich die Aufmerksamkeit immer mehr auf die Titelfigur und deren Alter Ego Mephistopheles. Busonis Faust scheint Thomas Hampson auf den Leib geschnitten zu sein, auch wenn ihn die Spitzentöne hörbare Anstrengung kosten. Das kraftvoll virile Timbre seines Baritons, die natürliche Autorität seiner Erscheinung, die im Liedgesang geschulte Sprachkultur, sie vereinen sich hier, um aus den gegensätzlichen Wesenszügen Fausts - er ist Suchender und Wissender, Intellektueller und lebenshungriger Ästhet, schuldbewusst und arrogant zugleich - eine grosse, faszinierende Bühnengestalt zu formen. Doch auch Gregory Kunde in der extrem hoch liegenden Partie des Mephistopheles ist ein Glücksfall für die Zürcher Aufführung. Sein schlanker, scharf deklamierender, bei aller Durchschlagskraft gleichsam schwereloser Tenor macht ihn in all seinen Vermummungen zum perfekten Schatten Fausts.

Anspruchsvoll, doch wenig dankbar sind die Aufgaben der zahlreichen übrigen Solisten und der einzigen Solistin - Sandra Trattnigg in der Rolle der Herzogin - sowie des Chores. Auch da erbringt das Opernhaus einen eindrücklichen Leistungsbeweis. Vor allem aber ist es der junge Dirigent Philippe Jordan, der Busonis oft als spröde etikettierte Musik zum Leben erweckt. Mit dem spürbar engagierten Orchester entfaltet er ihr reiches Klang- und Farbspektrum, legt er die linearen wie die polyphonen Strukturen frei, schärft er den Rhythmus, verleiht er den stilistisch vielfältigen Formeinheiten Kontur. Die rein instrumentalen Teile - Symphonia, Intermezzo, Sarabande - erhalten so ganz eigenes Gewicht.

Auch wenn die Inszenierung mehr Bebilderung als Interpretation der Handlung ist: Die Wiederaufführung von Busonis Faust-Oper verdient Respekt, nicht zuletzt, weil sie eine bedeutende Epoche der Zürcher Musikgeschichte in Erinnerung ruft.