Lyrische Szenen und Schicksalsdramatik

Herbert Büttiker, Der Landbote (20.01.2004)

Eugen Onegin, 18.01.2004, Zürich

Ein schwarz gefiederter Dämon herrscht auf der Bühne. Die neue Inszenierung zeigt den Komponisten der «Lyrischen Szenen» als Schicksalsdramatiker grossen Stils - eine eindrückliche Ensembleleistung.

«Als er 1823 mit der Niederschrift des "Eugen Onegin" begann, hatte Puschkin etwas im Stile von Byrons "Don Juan" im Sinn. Aber bei dessen Vollendung 1831 waren seine Lehr- und Initiationsjahre längst zu Ende, und zur Welt kam etwas gänzlich anderes: der erste russische realistische Roman, von dem aus ein direkter Weg zu Tolstois "Krieg und Frieden" führt» (Michail Schischkin im Programmheft). Etwas gänzlich anderes bedeutete die Beschäftigung mit «Eugen Onegin auch für Tschaikowsky. Ihm schien eines klar: Der Puschkin-Text, den er 1877 für seine Zwecke zu bearbeiten und zu komponieren begann – Tolstoi war unterdessen schon bei «Anna Karenina» –, sollte keine «Oper» im herkömmlichen Sinn werden, kein Bühnenspektakel für wirkungsbewusste Sänger, sondern – Tschaikowsky suchte nach einer Bezeichnung – eine Folge «Lyrischer Szenen». Mit der undramatischen Form glaubte er ganz zu sich selber gekommen zu sein, wie viele Äusserungen zeigen. Einem Freund, dem Komponisten Sergei Tanejev schrieb er. «Es kann durchaus sein, dass Sie Recht haben, wenn Sie sagen, meine Oper sei nicht bühnenwirksam. Aber ich antworte Ihnen darauf, dass ich auf eine Bühnenwirksamkeit pfeife. Die Tatsache, dass ich keine szenische Ader habe, ist längst anerkannt, und ich gräme mich darüber recht wenig.»

Zurück zu Byron

Vielleicht hat sich Tschaikowsky geirrt. Jedenfalls scheint es die neue Zürcher Inszenierung darauf angelegt zu haben, dies nachzuweisen, und sie tut es mit wachsendem Erfolg im Laufe der drei Akte. Das Team Grischa Asagaroff (Inszenierung), Bernhard Kleber (Bühnenbild), Reinhard von der Thannen (Kostüme) und Stefano Giannetti (Choreografie) hinterlegt die Charaktere und ihre Geschichte mit einer Bühnenimagination, die das Werk zurückführt vom «realistischen Roman» zu seinen Anfängen im Geiste Byrons, von den «Lyrischen Szenen» zurück in die romantische Opernwelt und Schicksalsdramatik. Symbol dafür ist der schwarz gefiederte Dämon, der die romantische Aura des Titelhelden in den dunklen metaphysischen Zusammenhang rückt.

Wie die Inszenierung dieses Motiv aus der Genreszene des ersten Bildes (ein bäuerischer Tanz von Krähen und Garbenpuppen) heraus entwickelt, wie dann die Erscheinung des jenseitigen Tänzers meist im Hintergrund der Bühne mit dem Klanggeschehen korrespondiert, hat etwas Bezwingendes und wirkt als starkes Signal zu einer Musik, die eben nicht nur grossartige Seelenschilderung ist, sondern auch das Pathos bestürzender Fatalität besitzt. In den Bühnenbildern – man mag ihre Überinstrumentierung zumal im ersten Akt kritisieren – findet die Irrationalität ihre wirkungsvolle Ausweitung ins Atmosphärische und ins Spektakuläre. Zum grandiosen Höhepunkt der Bühnenraumtheatralik wird das Finale der Festszene. Im Strudel der unsinnigen beziehungsweise aus den hintersten Seelenklammern gesteuerten Konfrontation Lenskis und Onegins zerstiebt schliesslich im kalten Licht der Festsaal im Larinschen Haus, und die Verwandlung ins Winterbild der Duellszene geschieht fast im gleichen Atemzug.

Ideale Rollengestaltung

Die Fatalität des Geschehens als Beschleunigung: Dieser Coup ist von nachhaltiger Wirkung. Die Spannung, die man im ersten Akt vermissen mochte, lässt nun nicht mehr nach, gerade auch, wenn der Raum frei ist für lyrische Entgrenzung. Piotr Beczala bietet sie nach dem mit famosem Griff gestalteten Eklat im Festsaal mit ergreifend konzentrierter Verinnerlichung im Monolog vor dem Duelltod: eine Verkörperung des Lenski, die keine Wünsche offen lässt. Geradezu ideal auch der Kontrapunkt, den LaszloPolgar mit der Arie des Fürsten Gremin zur stillen Verlorenheit Lenskis setzt: eine humane Kraft und Ruhe, die alle Fatalität aufheben zu können scheint, gewinnt im gelassenen Strömen dieses kraftvollen und sensibel austarierten Basses ihr ganzes Gewicht.

Gremins Arie ist mehr als eine erhabene Episode, und es ist ein schöner Einfall der Regie, dass Gremins Rollstuhl auf der Bühne steht, wenn sich Tatjana und Onegin zum letzten Stelldichein treffen, und der Tumult der Emotionen zwischen Resignation und Leidenschaft, Liebesgeständnis und Abschied ist im Umfeld dieser Wahrheit um so verstörender. Sängerisch wird er bravourös gemeistert. Für die haltlose Verzweiflung hat Michael Volle sowohl darstellerische wie stimmliche Entfaltungsmöglichkeiten (ein zusätzlicher Funke Brillanz wären dieser Baritonstimme für die Höhepunkte zu wünschen), und Maya Dashuk hat alles, um Tatjana im Zwiespalt der Gefühle wie in der Grösse und im Stolz der verletzten Seele glaubhaft zu machen: eine Stimme von expansiver Kraft, aber schlank und flexibel geführt, und eine Bühnenpräsenz von gewinnender Ausstrahlung.

Hervorragendes Zürcher Ensemble

Die junge Russin, die sich mit diesem Rollendebüt in Zürich vorstellt, ist im Ensemble des Opernhauses bestens aufgehoben, umgeben von prägnanten Stimmen und Figuren: Liliana Nikiteanu ist ihre Schwester Olga, Stefania Kaluza ihre Mutter und Cornelia Kallisch ihre Njanja, und Martin Zysset gibt pointiert Triquets parfümiertes und gepudertes Kabinettstück. Für sie alle gilt freilich, dass ihre Partien dort enden, wo das Drama seinen verhängnisvollen Lauf nimmt – und die Aufführung in Fahrt kommt. Das lenkt den Blick zurück auf den ersten Akt, der nicht nur szenisch etwas schwerfällig wirkt, sondern auch musikalisch noch wenig Profil zeigt. Vladimir Fedoseyev lässt da die Zügel locker, ohne dass damit für die Atmosphäre des Eröffnungsbildes und auch der Briefszene allzu viel gewonnen ist. Mit den festeren Konturen des Chortableaus – der Opernchor hat es sicher im Griff, in der Kostümierung zwar bleich, im Klang aber farbig – und den dramatischen Steigerung stellt sich dann die Konzentration ein, die Tschaikowskys, man möchte sagen: albtraumwandlerische musikalische Inspiriertheit, mit der er die seelischen Katastrophen gestaltet, ins hellste Licht rückt.