Der Flügelschlag des Todesengels

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (20.01.2004)

Eugen Onegin, 18.01.2004, Zürich

Tschaikowskys «Eugen Onegin» im Opernhaus Zürich

Ist das Einfache denn so schwierig? Wirkliche, natürlich empfindende Menschen in einer alltäglichen Umgebung wollte Peter I. Tschaikowsky in seiner Adaptation von Puschkins Versroman darstellen. Deshalb bezeichnete er diese als Lyrische Szenen und vertraute die Uraufführung (1879) Studierenden des Moskauer Konservatoriums an. Bloss keine grosse Oper, das ist in der Zürcher Neuproduktion auch die Devise des Dirigenten Vladimir Fedoseyev, der als berufener Sachwalter des Komponisten über ein untrügliches Sensorium für den lyrischen, stimmungshaften Charakter des Werks verfügt. Wie Tschaikowsky mit den ersten Klängen eine unverwechselbare Atmosphäre schafft, wie er mit wenigen Strichen die Idylle des spätsommerlichen Landlebens auf dem Gut der Larina zeichnet, wie er die Liebe Tatjanas zu Onegin in der Briefszene zu einem ekstatischen Gefühlsausbruch steigert, wie er mit der schlichten Form des Kanons vor dem Duell anzeigt, dass die Freunde Onegin und Lenski gleich empfinden, aber nicht mehr zusammenfinden können, wie er schliesslich mit ähnlich knappem Gestus das ländliche Fest und den mondänen Ball schildert - das alles verhilft «Eugen Onegin» zu seinem ganz eigenen musikalischen Klima.

Szenische Überinterpretation

Hätten sich doch Grischa Asagaroff (Regie) und Bernhard Kleber (Bühne) von diesem impressionistischen Gestaltungsprinzip leiten lassen! In ihrer Inszenierung meint Alltagsleben minuziösen Realismus und Gefühl penetrante Symbolik. Das erste Bild ist von diesem Kontrast geprägt. Einerseits das goldgelbe Kornfeld, in dem auch die Mohnblumen nicht fehlen, die Möbel und Requisiten «aus der Zeit», die häuslichen Verrichtungen - es fehlt nur noch der Duft der eingemachten Konfitüre -, anderseits die expressionistische Himmelsszenerie auf dem Rundhorizont, der wie das gesamte Raumkonzept dieses Bildes sehr an die letzte Zürcher «Onegin»-Inszenierung von 1990/91 erinnert. Da droht Unheil! Und es tritt denn auch alsbald ein, in Gestalt des neuen Gutsnachbarn Onegin, der hier, ausstaffiert mit einer scheusslichen Langhaar-Perücke, langem schwarzem Mantel und Zylinder (Kostüme: Reinhard von der Thannen), zum zerstörerischen Dämon wird.

Nun kippen die Bilder immer mehr ins Surreale. Die Briefszene spielt in einer Traumwelt. Weit in der Ferne, hinter einer Reihe von fensterartigen Lichtfeldern, scheint der Fluchtpunkt von Tatjanas schwärmerischen Liebeshoffnungen zu liegen. Bevor sie den Brief an Onegin zu schreiben beginnt, hebt ihr Bett vom Boden ab. Und dann, nachdem sie sich, entgegen jeder Konvention, zu ihrem Liebesgeständnis entschlossen hat, passiert es, erscheint - zuerst mit Onegins Zügen - jene geflügelte Gestalt, die als Todesengel zum pathetischen Leitmotiv dieser Inszenierung wird. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Fortan gilt die Perspektive Onegins, und in dieser erscheinen die Gäste bei Tatjanas Namenstagsfest als weisse Clowns und die Ballbesucher im Palast des Fürsten Gremin als grünliche Lemuren (Choreografie: Stefano Giannetti). Einzig die Duellszene, vor dem Prospekt eines Winterwaldes, setzt einen Ruhepunkt. Doch gerade hier, wo es nur inneres Geschehen gibt, zeigt sich, wie dürftig Asagaroffs Personenregie ist. Sie beschränkt sich weitgehend darauf, die Figuren irgendwie zu beschäftigen. Was würde Onegin eigentlich tun, wenn er sich nicht die Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen oder unsichtbare Staubkörnchen vom Mantel wischen könnte? Und so genügt es denn nicht, dass Musik und Text Tatjanas Briefszene in Erinnerung rufen, wenn Onegin im dritten Akt in Liebe zu ihr entbrennt. Um die Parallelität der Situation zu verdeutlichen, zeigt ihn Asagaroff schreibend in einer Glaskabine, gespiegelt vom Todesengel.

Blendend gesungen

Solch simple Veräusserlichung erscheint umso weniger angebracht, als das Sängerensemble und der exzellente Chor über grosse vokale Ausdruckskraft verfügen. Getragen von Fedoseyev, den man mit dem Orchester der Oper Zürich noch selten derart subtil und kontrolliert musizieren gehört hat, vermag sich auch eine so helle, leichte Stimme wie die von Maya Dashuk in der Partie der Tatjana durchzusetzen, wobei allerdings das Vibrato der Spitzentöne verrät, dass ihr lyrischer Sopran hier an Grenzen gerät. Als Darstellerin profitiert die junge russische Sängerin bei ihrem Rollendébut zudem von ihrer Vertrautheit mit dem Text (der in Einblendungen fragmentarisch übersetzt wird). Ergreifend zart und verinnerlicht, im letzten Teil, nach einigen nicht ganz makellosen Tönen, auch mit dem ihm eigenen Glanz und Schmelz macht Piotr Beczala die Arie des Lenski zu einem Kabinettstück differenzierter Gestaltung. Nobel und voller Wärme László Polgárs Fürst Gremin, empfindsam und immer noch jung Stefania Kaluzas Larina, die man schon bei der letzten Zürcher «Onegin»-Premiere erleben konnte, etwas überdreht in ihrer Heiterkeit und wohl deshalb auch stimmlich nicht ganz gefestigt Liliana Nikiteanus Olga, diskret, aber intensiv präsent Cornelia Kallisch als Filipjewna, erfrischend jung Martin Zyssets Monsieur Triquet.

Doch das Zentrum bildet die Titelfigur, Onegin. Zum Glück färbt das degoutante Erscheinungsbild, das ihm hier verpasst wird, nicht auf Michael Volles Stimme ab. Sie klingt satt und rund wie stets, elegant und geschmeidig, auch wenn sie noch nicht alle Farben, die auf der reichen Palette dieser Partie bereitliegen, einzusetzen vermag. Sie hat den Atem für weite Legatobögen, und sie spart die allerstärksten, intensivsten Töne für den Schluss auf, wenn Onegin, völlig zerrüttet, erkennt, dass er das Glück verpasst und Tatjana unwiderruflich verloren hat.