Gerhard R. Koch, Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.01.2003)
Klaus Michael Grüber und Christoph von Dohnányi mit Mozarts "Idomeneo" in Zürich
Noch in den sechziger Jahren durfte man meinen, daß Mozart vier wirklich relevante Opern geschrieben habe - "Figaro", "Zauberflöte", "Entführung", "Don Juan". Da hatte es keinen Zweifel zu geben. Während schon "Così fan tutte" eher fakultativ genannt wurde; das frivol-irreale Sujet galt als strittig, die sublime Musik nicht als "Hit". Vollends die großen Serias, "Idomeneo" und "Titus", waren keineswegs ein "Muß". Dabei soll Mozart neben "Figaro" und "Don Giovanni" gerade "Idomeneo" besonders geschätzt haben. Und dies ist nur zu verständlich: "Idomeneo" ist Mozarts Herzblut-Laboratorium, in ihm hat er italienische Seria und französische Tragédie lyrique zu seinem Prototpyp von Musikdrama synthetisiert. Mag er die Entstehungszeit als besonders glücklich empfunden haben, so erscheint doch der Vater-Sohn-Konflikt als überdimensional. Und der expressionistisch flamboyante "Stum und Drang" der Musik, ihr erregt flackerndes Hin und Her vor allem der Accompagnato-Recitative, die leitmotivischen Vorwegnahmen, der düster aufwühlende Ton der Musik: "Idomeneo" bleibt packendes Musiktheater der experimentellen Extreme, zumal Mozarts wahre "Chor-Oper".
Daß so unterschiedlich an ähnlichen Strängen ziehende Musiker wie Michael Gielen und Nikolaus Harnoncourt ein besonderes Faible für "Idomeneo" haben, ist kein Wunder. Harnoncourts Zürcher Einstand als "richtiger" Operndirigent mit "Idomeneo" 1980 bleibt als Stichflamme in Erinnerung; mochte auch Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung bei aller hochästhetisierten Perfektion artig hinter dem vor allem orchestralen Gewittern zurückbleiben.
Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß, ein "Remake" war undenkbar. Gleichwohl kam es nun in Zürich zu einer Wiederbegegnung ganz anderer Art, die kaum minder bannende Erinnerungen evozierte: 1974 hatten Christoph von Dohnányi und Klaus Michael Grüber in Frankfurt "Herzog Blaubarts Burg" von Bartók und Schönbergs "Erwartung" herausgebracht: eine verstörende Doppel-Inszenierung, die beide Werke radikal als "subjektive Mythologie" nach dem Vorbild der Grüber-Regie von Brechts "Im Dickicht der Städte" umsetzte: durchaus un-"werktreue" Bildrätsel, selbst für aufgeschlossene Kenner begrenzt verständlich.
Seitdem reisen die Grüber-Verehrer zu seinen Premieren nach Paris, Amsterdam, Brüssel, Salzburg, Zürich, unlängst zu seinem Ruhr-Triennale-"Don Giovanni" in der Hoffnung, die magische Aura des Verweigerungssehers werde sich wieder einstellen. Dabei ist Grüber kein Interpret rundum "gelungener" Lösungen: Ein Rest Dunkel bleibt, wie es schon Mallarmé für sich proklamierte, auch wenn dies quasi als weißer Fleck der Inszenierung stehenbleibt. Doch vom bewußt Fragmentarischen ist Grüber abgekommen: Weiß er nicht mehr weiter, folgt er seit einiger Zeit doch eher dem horror vacui, und sei es in Anleihen selbst beim Stadttheater.
Auch beim Zürcher "Idomeneo" klafft die Spanne zwischen Vision und Konvention. Da, wo es um den archaischen Konflikt geht, da sind Grüber und seinen Bühnenbildner Gilles Aillaud bei sich, da signalisieren mächtige Felsblöcke Ur-Gestade, ein Riesen-Neptun-Haupt auf dem Zwischenvorhang Allmacht des Verhängnisses. Und Idomeneo steigt als Geschlagener an Land, ein alter gezeichneter Mann, an der rechten Schulter einen Harnischrest, die linke Hand später ein blutiger Stumpf. Von der Mythosmauer hebt er sich allenfalls im Halbrelief ab, Autonomie kann er nie und nimmer gewinnen. Auch sonst sind die Figuren eindringlich exponiert, Elektra etwa erscheint als lila gewandete Schwester der "Lohengrin"-Ortrud, düstere Nachtgestalt. Und wenn Mauerteile langsam zur Seite weichen, die Himmelsbeleuchtung geheimnisvoll variiert, für den Höhepunkt des Schreckens sich im Bühnenhintergrund ein flammendroter Spalt sich auftut, dann spürt man, nicht zum erstenmal, im Selbstwert der Bilder das Vorbild Robert Wilsons. Aber Kostümierung und Führung des Chors sind konventionell, die Spannung zwischen den Figuren läßt vor allem im dritten Akt deutlich nach, und eher verlegen wechseln die Bilder ab, statt suggestiver Monoperspektivik.
Verglichen mit Harnoncourts Ur-Lesart spielt das Zürcher Orchester unter Christoph von Dohnányi weniger rauh und schroff, und dennoch kommt das genuine "Idomeneo"-espressivo oft berückend zur Sprache; die Frage: "historisch" oder nicht hat an Brisanz verloren. Eine Entdeckung ist der Idomeneo-Tenor von Jonas Kaufmann: dunkel timbriert, auch des hellen Aufschwungs fähig und sicher in den Koloraturen, stets dringlich im Ausdruck. Kaum minder überzeugten Liliana Nikiteanus Idamante, Malin Hartelius' Ilia und Luba Organosovas Elektra. Eine im ganzen zwingende Aufführung, doch der Doppelklang von Aufschrei und stummem Rätsel wollte sich nicht einstellen.