Der Teufel steckt in der Musik

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Viel Applaus für ein schwieriges Stück: Ferruccio Busonis «Doktor Faust» erlebte am Zürcher Opernhaus eine vor allem musikalisch packende Premiere.

Wer ist Mephistopheles? Bei Ferruccio Busoni (1866-1924) ist er zunächst eine rein musikalische Figur, das klingende Ergebnis von immer rascheren, in immer höhere Lagen führenden Variationen, in denen die höllischen Geister dem Gelehrten Faust ihre Dienste anbieten. Als Letzter dieser Geister kann Mephistopheles nichts anderes sein als ein extrem hoher, in seinen wirbligen Motiven unfassbar bleibender Tenor: Sein Auftritt ist die Geburt des Teufels aus der Musik.

Schon hier zeigt sich, wie hoch hinaus Busoni mit seinem Fragment gebliebenen «Haupt- und Monumentalwerk» wollte. Eine neue, eigenständige Rolle sollte die Musik darin spielen, und der Stoff musste entsprechend gross sein. Über Dante, Leonardo da Vinci oder Don Juan hatte er zunächst nachgedacht, schliesslich kam er auf Faust - nicht auf Goethes Version, dessen Konkurrenz machte ihm eher zu schaffen, sondern auf das Puppenspiel von Karl Simrock, aus dem er sein eigenes Libretto entwickelte.

Was ihm vorschwebte, formulierte er in einem Prolog, der in Zürich leider nur im Programmheft vorkommt: Da kündigt der Dichter sozusagen einen Gegenentwurf zum damals noch aktuellen Verismo an, einen vorbrechtschen Versuch, die Kunst als «reines Spiel» zu begreifen. «Die Bühne zeigt vom Leben die Gebärde», heisst es da etwa, und: Das «Wunder» sei das «Heimatland» der Musik.

Diesem «Wunder» ist nun in der Zürcher Aufführung des während Busonis Zürcher Exil entstandenen Werks ein gebürtiger Zürcher auf der Spur: Philippe Jordan, Jahrgang 1974, geht die Partitur mit Sorgfalt und stimmigen Tempi an. Spröde und klangsinnlich, abweisend und packend, abstrakt und theatralisch ist die Musik gedacht, und über weite Strecken klingt sie auch so. Insbesondere in den leisen Passagen schaffen Jordan und das Orchester der Oper jene schwebende, unentschiedene Ausstrahlung, die den Reiz und die Schwierigkeit des Werks ausmachen. In den lauten Momenten vor allem im ersten Teil allerdings zeigt sich, dass der Teufel auch rein technisch in der Musik steckt: Da braucht es nicht viel, bis der Orchesterklang die Stimmen überdeckt.

Weder gut noch böse

Gesungen (und eben nicht gebrüllt) wird auf hohem Niveau. Insbesondere Thomas Hampson als Faust ist eine Idealbesetzung, dank seiner Bühnenpräsenz und weil er seinen eher weichen Bariton durchaus auch ruppig wirken lassen kann. Er ist keine Identifikationsfigur (die gibt es nicht in diesem Stück), keiner, der als gut oder böse oder sonst wie zu fassen wäre. Wie offen seine Figur angelegt ist, zeigen schon die verschiedenen Schlüsse, mit denen das Fragment ergänzt wurde: In düsterem es-Moll endet die Oper in der hier gespielten Fassung des Busoni-Schülers Philipp Jarnach, während Antony Beaumont 1985 einen nicht weniger stimmigen C-Dur-Schluss fand.

Hampson also verabschiedet sich in Moll - eine grosse Figur, die in der Partitur wie auf der Bühne als Magnet funktioniert und alle anderen Personen gleichermassen anzieht und abstösst. Die Herzogin von Parma etwa, die Busoni aus Opernklischees zusammengefügt hat (absolut ist die Liebe, mit der sie Faust folgt, absolut auch die Verzweiflung, mit der sie ihm nach ihrem eigenen Tod ihr totes Kind übergibt); Sandra Trattnigg verkörpert die einzige belcantistische Partie des Stücks mit vollem, lyrischem Sopran.

Auch die übrigen Figuren treffen den Ton: die drei Studenten aus Krakau (Martin Zysset, Andreas Winkler, Matthew Leigh) einen mechanisch kühlen, der Herzog von Parma (Reinaldo Macias) einen schwächlichen, der von Jürg Hämmerli hervorragend vorbereitete Chor einen je nach Bedarf entrückten oder aggressiven. Gregory Kunde als Fausts Mit- und Gegenspieler Mephistopheles schliesslich einen hellen, giftigen, fast quäkenden: Ein irrlichternder Teufel ist er, der seiner Stimme jede Bodenständigkeit auszutreiben weiss (aber am Ende, wenn er zum Nachtwächter wird, die Stadt fast fürsorglich vor Feuergefahr warnt). Kalt ist sein Charme, flackernd seine Häme, ungreifbar seine ganze Erscheinung, da muss er schauspielerisch fast nichts tun dazu.

Dieser Meinung ist auch Regisseur Klaus Michael Grüber, der mit Philippe Jordan in der letzten Saison Janáeks «Die Sache Makropulos» herausgebracht hat und nun Busonis Figuren eher inneren als äusseren Spannungen aussetzt. Wie in Zeitlupe wird geschritten und gelitten, und wie oft bei Grüber ersetzen kleine Gesten grosse Bewegung: Die Art, wie Mephistopheles die Füsse auf Fausts Tisch legt, sagt alles über seinen Machtanspruch.

Röcke wie Hochzeitstorten

Grüber hat Busonis Vorstellungen überaus ernst genommen. Die Bühnenumbauten bei offenem Vorhang betonen die Künstlichkeit, die der Komponist wollte, und es gibt keinerlei Versuche, die disparate Geschichte in einen logischen Ablauf zu zwingen. Das Ganze spiele nur in Fausts Kopf, liest man im Opernhaus-Magazin, aber das hat eigentlich keine Bedeutung; fest steht, dass es in keinem Moment um Realismus geht an diesem Abend.

Daran halten sich auch das Bühnenbild von Eduardo Arroyo und Eva Desseckers Kostüme. Flaschen voller bunter Flüssigkeiten stehen in den Plexiglasvitrinen von Fausts Studierzimmer, er selbst trägt eine Renaissance-Frisur; die Studenten aus Krakau treten in Geheimdienstmänteln auf, die Reifröcke am Hof zu Parma erinnern an Hochzeitstorten und Weihnachtsbäume zugleich (man hat wieder einmal keinen Aufwand gescheut für die Kostüme). Dekorativ ist das, allzu dekorativ vielleicht für ein Stück, das durchaus nicht nur das Schöne sucht. Und zuletzt, wenn das tote Kind Fausts Leben erbt und als weisslicher Jüngling durch den Hintergrund schreitet, wirkt das eher lächerlich als berührend.

Die Musik allerdings, die im zweiten Teil auch ihre ausufernden Momente hat, strömt hier wieder prägnant aus dem Graben: als eigentliche Protagonistin des Stücks, ganz in Busonis Sinn.