Endspiel eines Patrioten

Herbert Büttiker, Der Landbote (25.05.2004)

Les vêpres siciliennes, 23.05.2004, Zürich

Die Patrioten, die Besatzungsmacht und der Frieden sind Thema von Verdis «Sizilianischer Vesper». Opernschematik dominiert die neue Zürcher Inszenierung, aber Verdis Musik lässt niemanden im Stich.

«I vespri siciliani» enthalten Musik, die zum Ergreifendsten gehört, was Verdi komponiert hat, und manches, so die Ouvertüre, die Siciliana der Sopranistin, die Ballettmusik, zählt zur Konzerthitliste. Dennoch erscheint die nach der grossen Trias «Rigoletto», «Il Trovatore», «La Traviata» entstandene, 1855 uraufgeführte Oper selten auf dem Spielplan, in Zürich zuletzt vor mehr als dreissig Jahren. Gründe dafür sind wohl vor allem die sperrige Grösse des für die Pariser Opéra komponierten Fünfakters und vor allem die besonderen Anforderungen, die die Aufmischung des italienischen Melodramma mit typisch französischen Stilelementen in dieser Musik für die Interpreten mit sich bringt.

Gründe, sich gerade heute mit diesem faszinierenden Komplex zu befassen, gibt es aber auch. Dabei geht es vor allem um die Thematik. Dass sich das Opernhaus stilistisch mit dem Kompromiss einer italienischen Fassung der «Vêpres Siciliennes» begnügt, die viel Französisierendes mit einbezieht, aber auf das grosse Ballett verzichtet, mag man dabeials nebensächlich betrachten. Zumal das rein italienische Solistenensemble mit Paoletta Marrocu, Marcello Giordani, Leon Nucci und Ruggero Raimondi eindrücklich für genuinen Verdi-Gesang bürgt.

Kolorit und aktuelle Thematik

Als historisches Ereignis liegt der Oper der Aufstand der Sizilianer im Jahr 1282 zu Grunde. Aber die Geschichte des Librettos von Eugène Scribe – es ist ursprünglich als «Le Duc d’Alba» für Donizetti im Kontext des niederländischen Aufstandes angesiedelt – zeigt auch, dass damit nicht viel mehr als ein Kolorit festgelegt ist. Diesem zollt Verdi mit Siziliana und Tarantella auch farbigen Tribut, im Wesentlichen aber geht es um dramatische Konstellationen, die ins Zentrum von Politik und Privatem, Macht und Menschlichkeit zielen und an keine Epoche gebunden sind.. Für den Konflikt zwischen Besatzungsmacht und edlen Patrioten, die auch vor terroristischen Mitteln nicht zurückschrecken, und für einen Lauf der Dinge, in dem Friedenschancen gewalttätig ignoriert werden, sollte es an Hellhörigkeit gerade heute nicht fehlen. Dass der tyrannische Herrscher Guido di Monforte im Hoffnungsträger des sizilianischen Widerstandes seinen mit einer Italienerin gezeugten Sohn Arrigo erkennt, um seine Anerkennung und Liebe kämpft und am Ende auch dessen Ehe mit einer italienischen Fürstin segnet, ist von einer symbolischen Kraft, die heute genauso berührt wie der rabenschwarze Schluss der Oper: Der sizilianische Patriot Procida, der unbeirrt seine Sache weiter betreibt, funktioniert das Läuten der Hochzeitsglocke zum Signal für den Aufstand und ein blutiges Gemetzel um.

Das alles zwingt nicht zur Aktualisierung im vordergründigen Sinn (elegante Militäruniformen verweisen im Opernhaus auf die Zeit des Ersten Weltkriegs), aber eine Vorgabe zu packenderer szenischer Intensität, als sie Cesare Lievi (Inszenierung) und Maurizio Balò (Ausstattung) bieten, könnten «I Vespri Siciliani» schon sein. Mit einer im Laufe der fünf Akte nur wenig variierten Trümmerlandschaft ist ein an sich stimmungsvoller Ausgangspunkt gegeben, aber es scheint wenig damit gearbeitet worden zu sein (Licht!). Im Bewegungsgeschehen fehlen Ideen oder das Interesse am szenischen Detail, und es beschränkt sich vor allem in den grossen Tableaus allzu sehr auf pure Opernschematik.

Autorität und Menschlichkeit

Die Inszenierung gewinnt an Dichte in den beiden Schlussakten, und insgesamt ist immerhin das Feld offen für das musikalische Geschehen – für die Entfaltung von Verdis unmitelbarer Gesangsdramatik, die sich gewissermassen selbst in Szene setzt. Obwohl Leo Nuccis Monforte wohl auch von der baritonalen Statur her dort besonders stark ist, wo die intimen Seiten der Figur angesprochen sind, ist es doch auch eine Frage von Kostüm und Auftritt, dass ihn der Despotismus eher schlecht zu kleiden scheint. Schön, wie Nucci dann in der Arie und im Duett des zweiten Aktes mit Arrigo – Säbel und Ordensbrust müsste er hierbei nicht tragen – sängerisches und menschliches Format in der erfüllten Kantilene zu Deckung bringt. Wie von selbst versteht sich dagegen der autoritäre Auftritt voller Pathos bei Ruggero Raimondis Procida. Sein «O tu Palermo» hat dunkel-pastosen Glanz wie je, die intriganten Anweisungen haben Griff und Schwärze, und die Mischung aus Vaterlandsliebe und eigensüchtiger Machtpolitik erhält in der imponierenden Erscheinung ihre verhängnisvolle Brisanz.

Nicht weniger spannungsvoll als die gegenläufige Entwicklung der beiden Vater- bzw. Führerfiguren verläuft diejenige des Liebespaares. Paoletta Marrocus Sopran mobilisiert einiges an zündender Attacke in ihrem aufwieglerischen ersten Auftritt, Marcello Giordanis Tenor besitzt die mühelose Spannkraft für den hochfahrenden Stolz im ersten Duett mit Monforte. Berührender Lyrismus macht dann des grosse, von unlösbarer Tragik geprägte Duett der beiden im Gefängnisakt zu einem Höhepunkt des Abends, und unvergesslich bleibt, wie beide schliesslich den anmutig leichten Ton finden, Paoletta Marrocu insbesondere für das Glanzstück ihrer Siciliana («Mercé, dilette amiche»), Marcello Giordani mit einem Aufstieg zum hohen D: Melodische Heiterkeit in schöner Übereinstimmung mit dem Moment, da für einen Augenblick politische Gegensätze aufgehoben scheinen und die Musik – Utopie oder tragische Ironie – davon spricht, was Leben auch noch sein könnte.

Wendige Frische

Man fühlt sich in dieser Szene an «Ernani» erinnert. «I Vespri Siciliani» haben überhaupt in der politischen Thematik viele Berührungspunkte mit Verdis Frühwerk, und doch ist alles aufgebrochener, komplexer. Carlo Rizzi am Dirigentenpult hatte damit kaum Probleme, vielleicht eher zu elegant musizierte er durch die Partitur, teilweise auch in schnellen Tempi, die eine gewisse Glätte mit sich bringen mochten. Momente der Gefährdung blieben aber marginal, und sehr vieles war in seiner wendigen Frische auch ungemein bezwingend, das Finale des dritten Aktes mit seinem Schwung, das Quartett-Finale des vierten Aktes in seiner gelösten Transparenz. Neben den erwähnten Protagonisten waren zahlreiche Solisten in kleineren Partien, aber auch der musikalisch auf vielfältige Art geforderte Chor und das mit Bläserbrillanz aufwartende Orchester, bei allen Vorbehalten, die im Übrigen auch das Publikum gegenüber dem Inszenierungsteam machte, an einem eben doch reichen Verdi-Abend beteiligt.