Ansingen gegen die Besatzer

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (25.05.2004)

Les vêpres siciliennes, 23.05.2004, Zürich

Verdis Oper «I Vespri Siciliani» handelt von Krieg, Besetzung, Gewissenskonflikten und Rache. In der Aufführung im Zürcher Opernhaus geht es aber vor allem um die prächtige Musik.

Das Jahr 1282 ist lange her, und das war schon im 19. Jahrhundert so. Wenn Giuseppe Verdi den mittelalterlichen Aufstand der Sizilianer gegen die französischen Besatzer als Plot für eine Pariser Auftragsoper wählte, so tat er es trotzdem nicht für die historische Bildung seines Publikums, sondern aus aktuellem Interesse. Die Gegenwart war die Herausforderung, sie war auch das Problem des Komponisten und seines eher unwilligen Librettisten Eugène Scribe: «Die Franzosen sind beleidigt, weil sie niedergemetzelt werden», schrieb Verdi an den Direktor der Pariser Opéra, «die Italiener, weil Monsieur Scribe den historischen Charakter des Procida veränderte und einen ganz gewöhnlichen Verbrecher mit dem unvermeidlichen Dolch in der Hand aus ihm gemacht hat.»

Da traf der historische Konflikt eine gegenwärtige Spannung, so sehr, dass eine Aufführung des Stücks in Verdis Heimat erst 1861 möglich war, nach der Einigung Italiens (und sechs Jahre nach dem Pariser Erfolg). Kein Zufall also, dass Verdi an die weltverändernden Kräfte der Musik glaubte und den sizilianischen Aufstand auf Grund eines Liedes der Protagonistin ausbrechen liess.

Eine Oper ist eine Oper

Für Regisseur Cesare Lievi ist eine Oper dagegen kein Zeitstück, sondern eine Oper. Mit fast schon beeindruckender Konsequenz setzt er Themen wie die Demütigung der Besiegten oder ihre Rachelust rein dekorativ um: In düsterem Rahmen zwar, Ausstatter Maurizio Balò hat die stilisierten Ruinen auf der Einheitsbühne extra dunkelgrau gefärbt. Aber die Franzosen wirken mit ihren schmucken himmelblauen Uniformen genauso folkloristisch wie die Sizilianer mit ihren Kopftüchern. Und die Pferdestatue mit dem geköpften Reiter, die einem im ersten Bild den Hintern zukehrt, hat ihren einzigen Grund in der optischen Attraktivität; allfällige Ähnlichkeiten mit echten Statuen sind rein zufällig und liegen nicht in der Absicht des Regisseurs.

Was man vermisst in dieser Inszenierung, sind allerdings weniger «Tagesschau»-Bilder als eine eigene Position, eine durchaus in Verdis Sinn heutige intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Stoff. Diese fehlt, nicht zum ersten Mal auf dieser Bühne. Dafür ist, ebenfalls nicht zum ersten Mal, ein wunderbares Ensemble zu hören: Gleich vier Hauptrollen gibt es in dieser Oper, und sie sind sängerisch und von der Bühnenpräsenz her auf höchstem Niveau gleichberechtigt besetzt.

Da sind einmal die Liebenden Elena und Arrigo (Paoletta Marrocu und Marcello Giordani), die den Aufstand gegen den französischen Gouverneur Monforte planen. Da ist eben dieser Monforte (Leo Nucci), der sich als Arrigos Vater zu erkennen gibt und diesen damit in schlimmste Gewissenskonflikte stürzt. Und da ist schliesslich der sizilianische Rebell Procida (Ruggero Raimondi), der seinen Rachefeldzug auch dann nicht stoppt, als alles zum Guten gewendet scheint.

Spannung an der Rampe

Auch wenn der Regie zu den Psychodramen dieser Protagonisten ebenso wenig einfällt wie zum politischen Hintergrund des Stücks: Es kommt erstaunlich viel Spannung auf beim Rampensingen. Zwar wirft sich Raimondi nach seinem Schlager «O Palermo» rezitalmässig in die Pose des Applausempfängers, zwar werden Liebe und Hass gleichermassen ohne Blick- und Körperkontakt behauptet, aber musikalisch vibriert es gewaltig.

Paoletta Marrocu zeichnet die Entwicklung der Elena mit starkem, virtuos geführtem, manchmal auch ganz zartem Sopran nach; Marcello Giordani bewältigt die enorm hohe Partie des Arrigo ohne jegliche Verkrampfungen, mit nur wenigen tenoralen Schluchzern und viel emotionaler Kraft. Ebenso überzeugend singen die beiden «elder statesmen», Ruggero Raimondi mit seinem substanzreichen Bass und Leo Nucci mit seinem trockeneren, aber immer noch charismatischen Bariton.

Auch der von Jürg Raffelsberger vorbereitete Chor nutzt die prächtigen Vorlagen engagiert und klangvoll. Nur selten wird er (wie manche der kleineren Vokalpartien) vom Orchester der Oper übertönt: Carlo Rizzi, der elastisch, mit schwungvollen Tempi und einer zuweilen überdeutlichen Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenstimmen seine erste Zürcher Premiere dirigiert, setzt starke, auch lautstarke Akzente. Durchaus gezielt: Nach der missglückten Offenbarung von Monfortes väterlicher Liebe pfeift es zu Recht schrill aus dem Orchestergraben. So wird nicht nur eine Partitur gespielt, sondern eine Atmosphäre geschaffen - noch nicht ohne Koordinationsprobleme, aber spannungsvoll und nuancenreich.

Abenteuerliche Kehrtwendungen

Gerade die musikalischen Qualitäten zeigen aber auch die Schwierigkeiten von Verdis kaum zufällig eher selten gespieltem Werk: Neben eingängigen Arien und starken Ensembles, neben bewährten Tricks wie der Kombination von Bühnen- und Off-Gesang gibt es auch irritierende Momente: Melodien, die für heutige Ohren allzu lüpfig wirken in diesem inhaltlichen Zusammenhang, oder A-cappella-Stellen zu dritt und zu viert, die selbst bei dieser Besetzung schräg klingen.

Vor allem aber gibt es abenteuerliche Kehrtwendungen. So besingen Elena und Arrigo nach dem eben abgewendeten Todesurteil ihr Glück wie verliebte Teenager, und die Idylle ist so komplett, dass sie jeden Regisseur (ausser Lievi, der einfach kurzfristig auf Komödie umstellt) in eine Glaubwürdigkeitskrise stürzen würde. Der einzige Sinn dieser Szene liegt im musikalischen Kontrast und darin, dass sie eine enorme Fallhöhe schafft zur finalen Katastrophe, die dann ebenso abrupt eintritt: Die Glocken läuten, Monforte wird von den Rebellen ermordet, fertig. Was aus Elena und Arrigo wird, was sie Procida zu seinem «Coup» zu sagen haben, das verschweigt die Oper. Dass auch die Regie dazu stumm bleibt, erstaunt in diesem Moment nicht mehr.