Wanderer zwischen den Welten

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (26.09.2006)

Doktor Faust, 24.09.2006, Zürich

Premiere am Opernhaus Zürich mit Busonis «Doktor Faust». Das schwer zugängliche Stück wird dirigiert von Philipp Jordan. Das Publikum spendete ihm warmherzigen Applaus.

Im Opernhaus Zürich offenbart sich zurzeit der Generationenwechsel. Eben feierte noch Nello Santi mit seiner Tochter Adriana Marfisi auf der Bühne seinen 75. Geburtstag. Am Sonntag nun stand der junge Maestro Philipp Jordan im Orchestergraben, um Ferrucio Busonis aufwändige Oper «Doktor Faust» zu dirigieren. Und dies kurz nachdem sein Vater, der hochgeschätzte Schweizer Dirigent Armin Jordan, während einer Aufführung in Basel zusammengebrochen und verstorben ist. Der warmherzige Applaus, mit dem Philipp Jordan in Zürich vom Premierenpublikum empfangen wurde, galt auch diesem traurigen Umstand.

Musikalische Impotenz

Der Komponist und Theoretiker Ferrucio Busoni ist eine schillernde Figur. Er machte sich vor allem als origineller Publizist einen Namen. Seine «Neue Ästhetik der Tonkunst», in der er sich radikal für die Moderne in der Musik ausspricht, rief zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hans Pfitzner auf den Plan. Dieser warf Busoni und der Moderne mit flammender Feder «Musikalische Impotenz» vor. Busoni setzte sich insofern durch, als er eine neue Verbindung von alten Formen und neuen Tönen forderte. Damit wurde er zum Begründer des «Neoklassizismus», dem dann Igor Strawinsky mit seinen Ballettmusiken zum Durchbruch verhalf.

Busonis Oper «Doktor Faust» sollte sein kompositorisches Vermächtnis werden, er wollte die Gattung neu definieren: die Oper als «traumartige» oder symbolische Gegenwelt zur Realität. Der szenische Aufwand dafür ist enorm: ein grosser Chor singt hinter der Bühne die Stimme aus dem Jenseits und entgrenzt so den Bühnenraum. Eine Orgel sorgt für die sakrale Dimension - nur hat kein Opernhaus eine Orgel. In Zürich werden diese Orgelpartien deshalb ab CD elektronisch zugespielt.

Doch Busoni konnte sein kompositorisches Testament nicht mehr realisieren; er verstarb 1924, ohne die Partitur vollendet zu haben. Sein Schüler Philipp Jernach, selber ein interessanter Komponist, schrieb den Schlussmonolog des Faust. Obwohl es mittlerweile eine wissenschaftlich fundiertere zweite Fassung gibt, die auf Skizzen von Busoni zurückgeht, hat sich Philipp Jordan für Jernachs Version entschieden. Diese Entscheidung hat sich am Premierenabend durchaus als überzeugend erwiesen, bringt deutlich hörbar anders instrumentierte Musik von Jernach doch tatsächlich eine neue Dimension ins Geschehen, wie das im Libretto zum Schluss ja auch der Fall ist.

«Puppenspiel»-Atmosphäre

In dieser Zürcher Produktion des «Faust» wird zudem der sehr bewussten Entscheidung von Busoni Rechnung getragen, sein Faust-Libretto nicht von Goethes «Faust» abzuleiten, sondern vom ursprünglichen mittelalterlichen Puppenspiel. Regisseur Klaus Michael Grüber sorgt mit seinem Bühnenbildner Eduardo Arroyo und mit den Kostümen von Eva Dessecker dafür, dass diese «Puppenspiel»-Atmosphäre immer wieder durchschimmert. Zum Beispiel in der pompös ausstaffierten «Traum»-Szene im herzoglichen Palast von Parma, in der die Herzogin, die von Faust verführt wird, wie eine Marionette agiert - und auch so singt.

Womit wir bei der Musik von Busoni wären. Ihr hängt der Ruf spröder Intellektualität und stilistischer Heterogenität an. Um so mehr hat sie an der Premiere vom Sonntag unter der bezwingenden Stabführung von Philipp Jordan überrascht: Die expressive Kraft von Busonis harmonischen Schichtungen, von seiner originellen Art, gleichzeitig Verschiedenes aufklingen zu lassen, ist enorm. Dazu kommt eine musikalische Fantasie, die jede innerliche Regung des viel monologisierenden Faust vielschichtig und einfallsreich zum Ausdruck bringt.

Philipp Jordan hat diese orchestrale Präsenz und Dominanz nicht überstrapaziert. Er offenbarte sie mit engagierter Leidenschaft und gleichzeitig liess er den Sängern Entfaltungsspielraum. Wie es ihm gelang, die Polyphonie der dominanten tiefen Bläser und der höchst agilen Melodiestimmen zu einem vibrierenden Klang zu vereinen, ist grosse Klasse.

Auch die Regie von Grüber setzt subtile Akzente, ohne die an sich undramatische Handlung künstlich anzutreiben. Anfangs monologisiert Faust in seinem Studienlabor - hohe Plexiglas-Gestelle mit farbigen Gläschen und Tinkturen prägen den sonst offenen, ja fast leeren Raum. Und im zweiten Bild sind es Holzgestelle, gefüllt mit «Gerümpel» von der Dachkammer - man wird an Herbert Wernickes Bilder zu Bachs Passionen in Basel erinnert. Und da sitzt Faust, einsam verzweifelnd, und singt mit einer Hingabe, einer stimmlichen Grösse und farblichen Nuanciertheit, die einen über die drei Stunden hinweg in Bann schlägt. Thomas Hampson ist fast ununterbrochen präsent und hat dabei eine physisch und stimmlich höchst anspruchsvolle Partie zu bewältigen. Er macht daraus eine umwerfende Bravourleistung, auch mit seiner schlichten, untheatralischen Figurenzeichnung.

Zu diesem heldischen Bariton hat Busoni einen «teuflisch» scharfen Tenor in Beziehung gesetzt. Die «surrealen» Sprünge in der Stimmführung sind sehr anspruchsvoll. Gregory Kunde spielte musikalisch frei und technisch ungehindert mit seiner Partie und gab damit dem einschmeichelnd Bösen des Teufels ein plastisches Profil.

Zu diesen beiden hochkarätigen Männerstimmen, die den ganzen Abend dominieren, setzten Günther Groissböck als Wagner und Zeremonienmeister, Reinaldo Macias als Herzog von Parma und Sandra Trattnigg als Herzogin von Parma (und einzige Frau) geistreiche und musikalisch profilierte Akzente. Eindrücklich auch der grosse, von Jürg Hämmerli in der harmonischen Schärfung bestens vorbereitete Chor.