Elf Sänger suchen einen Regisseur

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (25.05.0004)

Les vêpres siciliennes, 23.05.2004, Zürich

Nach dreissig Jahren wieder am Opernhaus: «I vespri siciliani» von Giuseppe Verdi

Sie hat sich nie als Repertoire-Oper zu etablieren vermocht. «I vespri siciliani», Verdis Problem-Oper, bleibt problematisch auch in dieser Zürcher Neuinszenierung, die gerade im Szenischen masslos enttäuscht: Leerstellen, so weit das Auge reicht.

Der Anfang, das muss gesagt sein, ist viel versprechend: Unter der Leitung von Carlo Rizzi gewinnt die sehr grossformatige Ouvertüre überzeugend Gestalt und Form; man staunt über den Erfindungsreichtum, der auf «Die Macht des Schicksals» vorausweist, und freut sich über der zupackenden Spannung und Klangfantasie, mit der hier musiziert wird. Denn mag die Oper - respektive das Libretto - auch zum Schwächsten gehören, was Verdi in seinem Leben komponiert hat, die Musik hat durchaus ihre Meriten, insofern sie immer wieder hörbar Schatten vorauswirft auf Zukünftiges.

Allerdings, wenn sich der Vorhang dann hebt, wird es prekär. Ein Bühnenbild (Ausstattung: Maurizio Balò) von schon ausgesuchter Scheusslichkeit; Betonruinen, Quader, Blöcke, die übereinander und durcheinander liegen und stehen, eine Trümmerwüste im Niemandsland. Ein schiefes Reiterstandbild dominiert im ersten Akt, ein schiefer Tisch im vierten. Keine Frage, diese Welt ist aus den Fugen geraten, hier hat offenbar bereits jene Zerstörung vorgewütet, die laut Verdi erst ganz am Schluss der Oper, auf den letzten beiden Partiturseiten, hereinbricht, wenn die Sizilianer die Bühne stürmen und das grosse Morden beginnt. Aber vielleicht soll man es nicht so genau nehmen, sondern im übertragenen Sinn: zeitlos dann, beliebig eben.

Mücken

Sinn macht dieses Bühnenbild keinen; aber es verstellt viel Platz. Und macht alle jene Sängerinnen und Sänger ein bisschen lächerlich, die zu ihren hehren Auftritten über verschiedene Betonblöcke kraxeln müssen. Zudem gibt es zwischen Akt vier und fünf eine längliche Umbaupause, denn es müssen zwei offenbar von derselben allgemeinen Zerstörungswut niedergeknickte Palmen-Attrappen auf dem Bühnenhintergrund drapiert werden, auf dass jedermann merkt: Dieser Akt spielt im Freien. Und siehe da, ein Chorist schlägt sich dann bald einmal mit flacher Hand genervt an den Hals: Mücken stechen!

Rein szenisch ist dieses Bühnenbild vor allem eines: unpraktisch. Denn es verstellt viel Raum. Dieser würde dringend benötigt, um aus den Volksszenen, den brisanten - immerhin treffen Militärs der Besatzungsmacht, also Franzosen, auf die Unterdrückten, die Sizilianer -, dramatisches Feuer zu schlagen. Eine Konstellation schliesslich, wo es nur den sprichwörtlichen Funken bräuchte, und es käme zur Explosion. Doch davon merkt der Zuschauer rein gar nichts, denn Regisseur Cesare Lievi stellt Sizilianer und und Franzosen bereits im ersten Bild etwa so harmlos auf die Bühne, wie in Bachs «Matthäus-Passion» die beiden Chöre nebeneinander stehen. Entsprechend wird das grosse Chor-Tableau zum Schluss des dritten Aktes ein reines Konzertfinale.

Lilien

Für die Solosänger scheint mehr oder weniger dieselbe szenische Devise zu gelten: frontal ins Publikum schauen und vorn an der Rampe singen. Und wenn der Regie mal etwas einfällt - zu ihrem «Bolero» beispielsweise, eh schon schwierig zum Singen, muss Elena immense weisse Lilien, die sie gebündelt im Arm hält, einzeln auf den Boden werfen, auf dass eine entsetzte Dame aus dem Chor hinter ihr hereilt und die Lilien einzeln wieder aufliest -, dann ahnen wir selbstverständlich, wie das zu lesen wäre: dass nämlich Elena intuitiv(?) spürt, dass ihre blütenweisse Hochzeit nicht stattfinden wird. Recht hat sie zwar, aber das Spiel mit den Blumen wirkt dennoch hilflos.

So bleibt es also, wo die szenische Interpretation das problematische Werk derart unbeholfen im Stiche lässt (und zum Schluss entsprechend Buhrufe einstecken muss) - so bleibt es also der musikalischen Interpretation vorbehalten, eine Ehrenrettung dieser problematischen Oper zu versuchen. Der Versuch gelingt - ich würde sagen: gut zur Hälfte. Dort aber besonders überzeugend, nämlich was die drei Protagonisten anbelangt. In Marcello Giordani steht für die ebenso aufwändige wie letztlich etwas undankbare Rolle des Arrigo ein Tenor zur Verfügung, der seine Phrasierungen ganz aus dem Wortlaut und Wortsinn des gesungenen Texts entwickelt. Bei Verdi ist das eminent wichtig, in den Rezitativen wie in den Arien, und es führt hier zu einer rundum bewundernswerten Leistung: lyrischer Tenorglanz, der zuweilen fast an den jungen Domingo zu erinnern scheint.

Zwei Kämpen

Vielleicht noch stärker beeindruckt die vokale Kompetenz, welche Ruggero Raimondi und Leo Nucci, die grossen alten Kämpen des Fachs, beide über sechzig, ins Feld zu führen vermögen. Raimondi hat den Procida bereits 1970 in der legendären Scala-Produktion gesungen; heute überzeugt er vor allem durch seine baritonal gestählte Höhe. Zuweilen irritieren ein paar Vokalverfärbungen, zumal wenn sie die Intonation gefährden. Leo Nucci ist gleichsam die Inkarnation des Monforte: hin und her gerissen zwischen der Liebe zu seinem neu entdeckten Sohn Arrigo und zur Liebe zu seiner Macht, zwischen mächtigem Aufbegehren und gütiger Zärtlichkeit, dem er beidem mit seinem urgesunden, markanten Bariton eine fast furchteinflössende Intensität verleiht.

Wohl die grössten Anforderungen stellte Verdi an die Partie der Elena, die einerseits mit dramatischem Aplomb das ganze Ensemble zu übertönen hat und andrerseits im fünften Akt einen leichtgewichtigen, koloraturgespickten «Bolero» zu singen hat. Gerade dieser gelingt Paoletta Marrocu, die zum ersten Mal die Elena singt, wenig überzeugend. Ihre grosse Stimme will sich nur mit grosser Energie in die Höhe treiben lassen; zudem würde mehr Wortdeutlichkeit zu leichtgewichtigeren Phrasierungen führen. Umgekehrt dominiert Paoletta Marrocu die grossen Ensembleszenen fulminant. Ein spezielles Lob verdienen Chor und Zusatzchor des Opernhauses (Einstudierung: Ernst Raffelsberger), die hier gleichsam eine Protagonistenrolle haben und diese mit klangvoller, oratorienhafter Intensität erfüllen.