Tobias Gerosa, Der Bund (04.05.2004)
Oper als Kulturkampf: Francis Poulencs «Dialogues des Carmelites» am Zürcher Opernhaus
Gänzlich ungebrochen bringt Regisseur Reto Nickler Poulencs religiöse Oper auf die Bühne. Das blendet auf den ersten Blick, gerade auch im Zusammenspiel mit der süffigen Musik. Schaltet sich der Kopf ein, häufen sich die Fragen: Fast alles wirkt zu einfach.
Ratsch, sechzehn Mal saust am Schluss die Guillotine herunter und tötet die Karmeliterinnen von Compiègne, eine nach der anderen. Francis Poulenc war der Meinung, nur ein Originalgerät könne den gewünschten Toneffekt bringen – diesen Wunsch erfüllt ihm das Opernhaus Zürich nicht.
Sonst aber hält sich Regisseur Reto Nickler szenisch brav an den Text. Dass das handwerklich auf den ersten Blick aufgeht, ist der raffinierten Bühne von Hermann Feuchter zu verdanken. Ganz in Packpapier gehalten, hat sie etwas Provisorisches und Überraschendes. Klappen, Schiebewände und verschiedene als Textprojektionsebenen dienende Flächen verändern immer wieder in spannender Weise den Blickwinkel. Wenigstens etwas davon würde man sich auch inhaltlich wünschen.
Kein Platz für Zweifel
Poulenc schrieb seine Oper 1957 nach seiner Rückwendung zum Katholizismus. Die Rollen von Gut und von Böse sind darin felsenfest gefügt, für Zweifel bleibt kein Platz: Alles was zählt, ist die Religion, und die Französische Revolution von 1789 erscheint als Zerstörerin. Und als Mittel zur Selbstverwirklichung.
Denn wie soll man Blanches freiwilligen Gang aufs Schafott anders deuten? Geplagt von Ängsten tritt die junge Adlige im Frühling 1789 ins Kloster ein. In Gesprächen mit der sterbenden Priorin, der Mit-Novizin Soeur Constance (von Christiane Kohl mit mädchenhaftem Charme gesungen) und später mit Mère Marie (Stefania Kaluza ist in ihrer unerschütterlichen Härte eindrücklich) wächst ihr Glaube, siegt aber noch nicht über ihre Todesangst. Erst wenn ihre Mitschwestern im Terreur der Jakobiner für ihre Standhaftigkeit umgebracht werden, findet Blanche die Kraft, ihnen freiwillig zu folgen. Nickler erzählt das affirmativ nach – nur ein einziges Mal, in der Abstimmung über das Märtyrergelübde, gesteht er Blanche andere Gefühle zu, als sie vorgegeben sind.
Herbe Einbrüche, straffe Tempi
Vielleicht hätte es den Mut gebraucht, Musik und Text auf der Inszenierungsebene etwas entgegenzuhalten. Denn Poulenc setzte das Opfer in emphatisch mitgehende Musik, welche die ganz grosse Geste nicht scheut, aufkommende Süsslichkeit aber meist noch rechtzeitig durch herbe, ja bisweilen brutale Einbrüche kompensiert.
Michel Plasson hält mit straffen Tempi die Handlung oft über die Szenengrenzen hinweg im Fluss. Poulenc verwendet einen riesigen Orchesterapparat. Dadurch, dass er ihn selten laut spielen lässt, vermeidet Plasson grosse Klangballungen, verschenkt aber einige dynamische Effekte – auch, weil kaum je wirklich leise gespielt wird. Dem entspricht die bis auf wenige Stilisierungen konventionelle Personenführung. So können sich die Sängerinnen – die Männer sind in dieser Oper nur als Nebenfiguren präsent, am prägnantesten Christian Jean als Priester – fast nur vokal profilieren. Während bei Juliette Galstian als neuer Priorin die Wärme ihrer Mittellage mit der unangenehm schneidenden Höhe kontrastiert, wirkt die verletzliche Expressivität von Felicity Palmers alter Priorin bestechend.
Hätten nicht ihre Zweifel am Glauben und am Sinn des Lebens der Regie eine Brücke zu einer eigenständigeren Interpretation geboten? Sie nutzt sie nicht und fokussiert ganz auf Blanche. Dass diese weniger zur Person als zur blossen Ideenträgerin wird, ist nicht die Schuld der berührenden Isabel Rey, deren Stimme an Körper gewonnen hat und zunehmend vielseitiger wird.
Die Musik wurde von einem unbekannten Selbstdarsteller, der an der Premiere im unpassendsten Moment auf der Bühne seine Show abziehen wollte und mit vereinten Kräften weggezerrt wurde, kaum beeinträchtigt. Ob das ein Regiegag sei, war nach der Vorstellung eine oft gehörte Frage. Er war es nicht, dass das aber nicht so offensichtlich war, spricht nicht unbedingt für die Inszenierung.