Kloster und Welt, Terror und Gebet

Herbert Büttiker, Der Landbote (04.05.2004)

Les Dialogues des Carmélites, 02.05.2004, Zürich

Francis Poulencs Hauptwerk ist ein inspiriertes Stück zwischen grosser Oper und geistlichem Mysterium und ein musikalisches Monument. Das Opernhaus stellt sich mit schönem Erfolg der Herausforderung.

Eine lange, schwere Agonie und das kurze Zischen der Guillotine: Poulencs Oper konfrontiert mit den entsetzlichen Geräuschen des Sterbens, und die Angstzeigt sich in vielen Formen. Aber er begleitet es auch mit einer Musik voller ätherischer Geheimnisse und leuchtender Inbrunst. Texte katholischer Kirchenmusik sind vielfach hineingewoben, und im Klang der Musik ist der Komponist des «Stabat mater» allgegenwärtig. Wären die «Dialogues des Carmélites» nicht eben doch eine Oper, sie liessen sich als Poulencs «Requiem» verstehen. Über ihren spezifischen Klang wacht im Opernhaus Zürich mit überlegener Selbstverständlichkeit der Dirigent Michel Plasson. Eingängig und eindringlich bringt er mit dem Orchester und Ensemble der Zürcher Oper die erstaunlichen Qualitäten dieser konservativen Moderne zur Geltung. Dazu gehören eine lapidare Rhythmik, der weite Ambitus empfindsamer melodischer Gestik, alles eingebunden in die faszinierende Kraft und Ausdrucksfülle einer reichen Harmonik und farbigen Instrumentation.

Todesangst und Martyrium

Dass die Oper in ihrer im grossen Ganzen kontemplativen Schwere kein Zugpferd der Opernspielpläne geworden ist, verwundert dennoch nicht. Im katholischen Luzern war das 1957 an der Scala uraufgeführte Werk vor vierzehn Jahren zu sehen, im protestantischen Zürich steht es jetzt zum ersten Mal auf der Bühne. Allerdings – Fotos im Programmheft weisen darauf hin – erlebte Zürich 1951 im Schauspielhaus unter dem Titel «Die begnadete Angst» die Uraufführung des Textes von Georges Bernanos (1888–1948), auf dem die Oper basiert und der sich seinerseits – als Drehbuch für einen Film – auf Gertrud von Le Forts (1876–1971) Novelle «Die Letzte am Schafott» (1931) stützte.

Die Letzte am Schafott ist Blanche de la Force, eine junge Adelige zur Zeit der Französischen Revolution, die aus schierer Lebensangst im Kloster der Karmeliterinnen Zuflucht sucht, aber als Sœur Blanche de l’Agonie du Christ auch in der Glaubenssicherheit keine Ruhe findet. Während das Revolutionstribunal die Nonnen in den Tod schickt, ist sie auf der Flucht. Aber dann – «incroyablement calme» – löst sie sich aus der Menge und schliesst sich den Märtyrerinnen an. Während die Hinrichtung von sechzehn Nonnen des Karmeliterinnenklosters von Compiègne bei Paris historisch verbürgt ist, ist die Figur der Blanche dichterische Erfindung: die «Verkörperung der Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche», wobei Gertrud von Le Fort vor allem an ihre eigene Zeit dachte.

Das weltliche Trauerspiel

Dramatische, meist verhaltene, aber an einigen Stellen auch explosive Spannung entfaltet sich in den Kontrasten von Kloster und Welt, von Terror und Gebet und vor allem in den geheimnisvollen Beziehungen zwischen Blanche und den Nonnen. Zu Blanches ängstlichem Wesen kontrastiert die unbekümmert naive Zuversicht ihrer Freundin Constance, und ihrem leichten Tod in «begnadeter Angst» steht der angstvolle Tod der Priorin nach einem vorbildlichen religiösen Leben gegenüber. Christiane Kohl mit dem leuchtend leichten Sopran ist für die Rolle der Constance eine ebenso ideale Besetzung wie Felicity Palmer, deren alternde Stimme noch den ganzen Glanz für die Glaubensautorität der Priorin besitzt, die aber auch all die Register für den grauenhaften Missklang ihres Sterbens mit grandioser musikalisch-darstellerischer Präsenz ziehen kann. Dieses zentrale Frauendreieck erweitern zwei weitere Vorsteherinnen des Klosters. Stefania Kaluza gibt der Mère Marie, der stellvertretenden Priorin, die ihre schützende Hand über Blanche hält, eindrücklich den Charakter von ruhiger Strenge, während Juliette Galstian als Madame Lidonie, die Nachfolgerin der verstorbenen Priorin, stimmlich zu forciert agiert und ihrer Partie und der menschlichen Grösse dieser Figur so wohl kaum gerecht wird.

Aber «Les Dialogues des Carmélites» ist keine «Frauenoper»: Zu den Figuren, mit denen Blanche in geistig-dialogischer Verbindung steht, gehören auch der Vater und vor allem der Bruder. Cheyne Davidson gibt den Marquis de la Force markant und kontrastiert ihn mit herb distanzierter Noblesse zur zärtlichen Zuneigung, die der junge Chevalier seiner Schwester entgegenbringt. Reinaldo Macias gestaltet sie mit viel belcantistischer Sensibilität. Bewegend sein Auftritt in der Schlussszene des 2. Aktes, in der die «Karmeliterinnen» als weltliches Trauerspiel kulminieren: Der Vater wird der Guillotine zum Opfer fallen, der Sohn wird ins Exil gehen und kämpfen, und sein Versuch, die Schwester zur Flucht zu bewegen, scheitert. Aber über diesem Scheitern liegt doch der Zauber menschlich reiner Liebe und im Gesang der Violinen die Trauer über eine Welt, die ihr Totengräber ist.

Kraft und Fragilität

Blanche gehört ihr von Anfang nicht an, alles kreist um ihre Angst. Aber weil sie durch diese Angst zugleich mit allem und allen in einer speziellen Verbindung steht, ist sie in ihrer ganzen inneren Armut dann doch die facettenreichste Figur des Stücks wird. Isabel Rey leuchtet das beeindruckend aus mit nuancenreichen Zwischentönen, mit grossen stimmlichen Reserven und auch mit der Kunst, die für die starken Emotionen und die langen Gespräche dieser Partie notwendige Kraft in den Dienst der Darstellung eines fragilen Wesens zu stellen.

Priester, Staatsfunktionäre, das aufgebrachte Volk: eine Vielzahl von Nebenfiguren, denen die Inszenierung ein kräftiges Profil gibt, weiten die Dialog-Oper zum Panorama der Zeit. Reto Nickler (Inszenierung), Hermann Feuchter (Bühnenbild) und Katharina Weissenborn (Kostüm) akzentuieren den philosophisch religiösen Diskurs. Die Bühne zeigt keine realistischen, sondern zeichenhafte Räume, und der gesungene Text wird in deutscher Übersetzung ins Bühnenbild hineinprojiziert. Dennoch kommt Theatralik in der prägnanten Personenführung und Gestik nicht zu kurz, und auch das Bühnenbild ist für verschiedene Aspekte offen. Es erscheint als äusserst ärmliches, auf eins zu eins vergrössertes, mit Karton und Klebeband zusammengeschustertes Bühnenmodell, ist aber auch eine effektvoll-komplexeBühnenmaschinerie. Die Inszenierung wird so dem Stück nach beiden Seiten hin gerecht, seiner meditativen Konzentration auf das religiös-existenzielle Thema und der «grossen Oper», als deren ferner Nachkomme die «Karmeliterinnen» eben auch zu sehen sind.