Angst und Schrecken

Jürg Huber, Neue Zürcher Zeitung (04.05.2004)

Les Dialogues des Carmélites, 02.05.2004, Zürich

Poulencs «Dialogues des Carmélites» im Opernhaus Zürich

Unerbittlich verrichtet das Fallbeil im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seinen Dienst. Die kleine Gemeinschaft der Karmeliterinnen aus dem Kloster Compiègne erleidet auf dem Schafott um ihres Glaubens willen das Martyrium. Ja, auch davon erzählt Francis Poulencs Oper «Dialogues des Carmélites», und im Schlussbild erfährt diese verbürgte Geschichte aus den Tagen der jakobinischen Schreckensherrschaft melodramatische Verdichtung. Das Aufeinandertreffen von Religion und Revolution gibt nur den äusseren Rahmen ab. Was den Abend im Innern zusammenhält, ist das Thema der Angst, das in der Figur der Blanche fokussiert ist. Das Schicksal der Tochter aus gutem Hause, die ihr Geburtstrauma und die folgende Lebensangst im gemeinsamen Tod mit ihren Mitschwestern überwindet, hat Gertrud von le Fort in der Novelle «Die Letzte am Schafott» erzählt, die Georges Bernanos später dramatisierte.

Während in den 1950er Jahren in Darmstadt die serielle Musik ihre Artistik auf die Spitze trieb und Luigi Nono mit ganz anderem ideologischen Hintergrund in seinem «Canto sospeso» Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer auf avancierte Weise vertonte, hat Francis Poulenc zu der ihn existenziell berührenden Vorlage eine unmittelbar eingängige, doch äusserst raffinierte Musik geschrieben, die ein dichtes Netz von Beziehungen webt und vieles erhellt, ohne plakativ zu werden. So wird die Musik zum unentbehrlichen Bestandteil der Dialoge, etwa in der letzten Begegnung Blanches mit ihrem Bruder, wo die ganze Kindheitssehnsucht nochmals aufscheint. Michel Plasson, seit Jahrzehnten eng vertraut mit der Partitur, erreicht mit dem Opernorchester ein wunderbar transparentes Klangbild, bringt die sparsam gesetzten Dissonanzen zu kristalliner Klarheit und versagt sich zugunsten der Deutlichkeit - oft wechselt Poulenc den musikalischen Gestus in harten Schnitten - das Baden in Klängen. Diese instrumentale Qualität findet ihre geglückte Entsprechung im ausgeglichenen Ensemble und im Szenischen.

Dem Regisseur Reto Nickler gelingt es, die katholisch geprägte Erzählung auf ihre humanistische Dimension hin zu öffnen, ohne deswegen dem Werk untreu zu werden. Gleich zu Beginn wird augenfällig, dass sich die Gesellschaftsschicht überlebt hat, der Blanche entstammt. Die prunkvollen Gewänder der untergehenden Eliten (Kostüme: Katharina Weissenborn) und die goldüberzogene Wand der Bibliothek von Blanches Vater stehen in hartem Kontrast zu dem mit Packpapier ausgeschlagenen Einheitsraum von Hermann Feuchter, der nur notdürftig mit Klebstreifen zusammengehalten ist. Doch im Zentrum stehen die Gespräche unter den Nonnen, die Nickler in der Übersetzung direkt in die Kulissen projizieren lässt. (Weshalb er uns bestimmte Textstellen vorenthält, bleibt im Dunkel.) Es sind Dialoge am Abgrund, am eigenen wie an dem der Zeitgeschichte. In ihnen manifestieren sich die unterschiedlichen Charaktere, die auch hinter den Klostermauern weit divergieren.

Eine Seelenverwandte findet Blanche, die im Kloster Zuflucht sucht, in der ersten Priorin. Ein Leben lang hat sie um ihren Glauben gekämpft. Auf dem Sterbebett muss sie erkennen, dass ihr Kampf vergeblich war. Grossartig, wie Felicity Palmer an die Grenzen ihres Alts geht, um die Todesangst auszudrücken. Von eherner Glaubensgewissheit erfüllt ist dagegen Mère Marie, die schliesslich auf Geheiss des Ordensgeistlichen dem ersehnten Martyrium entsagen und sich im Alltag bewähren muss. Stefania Kaluza gibt ihr stolze Gestalt, die sie stimmlich zu differenzieren weiss. Ihr Gegenbild ist die neue Priorin, Madame Lidoine, die ihren Mitschwestern menschliche Anteilnahme und Sympathie entgegenbringt. Juliette Galstian verkörpert sie warmherzig, wenn ihr Sopran in der Höhe auch etwas uneinheitlich wirkt. Und schliesslich ist da Sœur Constance, in ihrer kindlichen Naivität überzeugend gegeben von Christiane Kohl, die hellsichtig den Gang des Geschehens voraussieht und Blanche freudig am Schafott erwartet.

Doch zuerst hat Blanche das Martyrium ihres Lebens zu bestehen. Sie, die den Klosternamen «Sœur Blanche de l'Agonie de Christ» angenommen hat, wird immer wieder mit ihrer tiefsitzenden Lebensangst konfrontiert, die sich zunehmend in Todesangst wandelt. Isabel Rey gelingt es, die Figur langsam auf den Höhepunkt hin zu entwickeln. Intensiv gestaltet sie ihre Verzweiflung im zerstörten Haus ihres inzwischen hingerichteten Vaters, wohin sie aus dem Kloster geflohen ist. - Als der Schrecken der Revolution seinen Höhepunkt erreicht, weicht auch von Blanche die Angst. Überraschend versöhnlich wirkt das Schlussbild. Wenn vorher der Mob brutal ins Leben der Karmeliterinnen eingedrungen ist, folgt er mit wachsender Ergriffenheit dem blutigen Schauspiel. Die Lichtsäulen, die nun an der Rückwand aufscheinen, können sie auch ihm eine bessere Zukunft verheissen?